
Ist das zeitgenössische Kino der Nostalgie verfallen? «Alpha», der Wettbewerbsbeitrag von Julia Ducourneau und Carla Simóns «Romería» blicken auf die achtziger Jahre und den Ausbruch der Aids-Epidemie zurück, Tarik Saleh unterlegt den Vorspann seines Politthrillers «Eagles of the Republic» mit gemalten Schauspielerporträts.
Mario Martone rekonstituiert in «Fuori» ein touristenentvölkertes Rom, während man bei Wes Anderson im Propellerflugzeug reist. In mindestens drei Wettbewerbsbeiträgen sind Plattenspieler zu sehen, auf denen Hits aus den Sechziger- und Siebzigerjahren abgespielt werden.
Auch Richard Linklater, der texanische Godard-Bewunderer, richtet seinen Blick auf die Vergangenheit. «Nouvelle Vague» lässt die Entstehungsgeschichte und die Dreharbeiten von Jean-Luc Godards «À bout de souffle» auferstehen: in Schwarzweiss gefilmt, sehen wir Citroën-DS-Modelle und schwarze Peugeot 404 die Champs-Élysées hochfahren, in der Métro stehen wie einst Holzbänke. Ganz Paris raucht Gauloises ohne Filter.
In Guerilla-Manier abgedreht
Bei Linklater wird auch verständlich, weshalb Godards fulminante Erstinszenierung kurz nach ihrer Entstehung zum emblematischen Werk des jungen französischen Filmschaffens avancierte: «À bout de souffle» richtete sich in erster Linie gegen die Vorkriegsästhetik, in der das französische Kino der fünfziger Jahre weitgehend verfangen war.
Der Film, in Guerilla-Manier ohne Kunstlicht in zwanzig Tagen abgedreht, wurde zunächst als «unschneidbar» erachtet – die falschen Szenenanschlüsse waren für das zeitgenössische Auge unglaubwürdig, das überbelichtete Filmmaterial galt als Zumutung. Bei seiner Premiere wurde der Film für das minderjährige Publikum verboten.
Heute erscheint «À bout de souffle» in jeder Kunstgeschichte – Linklaters charmantes «Making-of» wäre ansonsten gar nicht erst finanzierbar gewesen. Auch das Auktionshaus Sotheby’s, das sich anschickt, das Originalscript im Juni zu versteigern, hatte offenbar Lunte gerochen und Mitte Mai angekündigt, das Dokument vor dem Verkauf in der Agentur in Cannes während des Festivals auszustellen.
Improvisierter Regiestil
Das Exemplar, das der Familie des Produzenten Georges de Beauregard gehört, besteht gemäss Katalog aus zweiundsiebzig Seiten, «handgeschrieben, mit blauer Tinte». Das eigentliche Drehbuch umfasst neunundzwanzig teils mit Korrekturen versehenen A4-Seiten, gefolgt von «achtunddreissig Dialog-Seiten und fünf Blättern mit Angaben zur szenischen Auflösung».
Der Text entspricht allerdings nur den ersten vierzehn Minuten des Films. Wie Anne Heilbronn, die Vize-Präsidentin von Sotheby’s Frankreich «Le Monde» auf Anfrage mitteilte, findet das Drehbuch mit der letzten Seite ein «brüskes Ende». Der Regisseur habe vermutlich jedoch keine weiteren Seiten geschrieben, das Manuskript sei «so komplett wie möglich».
Godards improvisierter Regiestil liefert auch in Linklaters Nachinszenierung einige der amüsantesten Momente: Die Dialogzeilen, auf einem Cafétisch unmittelbar vor den Aufnahmen entstanden, erhalten die Schauspieler ins Ohr geflüstert, an manchen Tagen, wenn dem Meister die Inspiration ausgeht, werden die Dreharbeiten zum Entsetzen des Produzenten umgehend abgebrochen und auf den nächsten Tag verlegt.
Das Flüchtige in Godards «A bout de souffle», der fiebrige Acting- und der schwebende Erzählstil, die dem Film bis heute seine genuine Kraft verleihen, entziehen sich jedoch der Nachbildung. Jacques Rivette (oder Éric Rohmer, die Vaterschaft der Sentenz ist nicht restlos geklärt) hatte diese Schwierigkeit einst prägnant in Worte gefasst: Jede Fiktion sei stets auch «ein Dokumentarfilm über die jeweiligen Dreharbeiten». Linklater, der Schüler der französischen Nouvelle Vague, kennt den Satz natürlich und hütet sich, in seiner jüngsten Arbeit übers Parodische hinauszugehen. Auch bei Sotheby’s hat man vermutlich verstanden, dass eine Präsentation des Scripts ins Leere greifen würde, die Ausstellung wurde jedenfalls abgeblasen.