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78. Filmfestival Cannes

Lasten der Geschichte und dräuende Apokalypse

19. Mai 2025 , Cannes
Patrick Straumann
Patrick Straumann
Sergei Loznitsa
Sergei Loznitsa, der ukrainische Regisseur bei der Premiere seines Films «Two Prosecutors» am 14. Mai 2025 in Cannes. (Keystone/EPA, Guillaume Horcajuelo)

Während der ersten Festivalwoche, in der ein durchzogenes Programm zu sehen war, hat sich noch kein eindeutiger Palmen-Anwärter durchgesetzt. Auffallend viele Produktionen des Wettbewerbs lassen sich auf formale Wagnisse ein.

«Man muss immer sagen, was man sieht, vor allem, und das ist das Schwierigste, muss man sehen, was man sieht.» – Bisweilen meint man, Charles Péguy habe den Satz eigens für die Filmkritik notiert. Nach einer Festivalwoche, wenn die Szenen und die Figuren der projizierten Inszenierungen beginnen, ineinanderzugreifen, wird das Vorhaben zur besonderen Herausforderung. Einen guten Stand haben in diesem Moment die Filme, die sich als Taktgeber erweisen, Inszenierungen, die dank ihrer formalen Risikobereitschaft zum Markstein der Programmreihen werden und einen in Versuchung bringen, die anderen Langspielfilme auf ihre Radikalität zu indexieren.

Altlasten deutscher Vergangenheit

So beispielsweise der deutsche Wettbewerbsbeitrag «Sound of Falling» von Mascha Schilinski, der sich mit seiner Bildsprache weit ins Metaphorische vorwagt, ohne je an Sogkraft einzubüssen. Mit beachtlicher Ambition hat die Filmemacherin ein simultanes Porträt von vier (vornehmlich weiblichen) Figurenkonstellationen geschaffen, die in verschiedenen Momenten des vergangenen Jahrhunderts dasselbe Haus in Norddeutschland bewohnen und sich ihre Verletzungen und Traumata jeweils quer durch die Generationen und Epochen weiterreichen.

Einen Augenschein diesbezüglich bietet die erste Szene, in der die rothaarige Heranwachsende Erika auf Holzkrücken auf einem Bein durch die Gänge hinkt, während im Off die Stimme ihres Vaters zu hören ist, der ihr nachschreit, sie solle die Schweine füttern. Während sie mit einem entwaffnenden Grinsen in Richtung Kamera den Rock hochhebt, sehen wir, dass sie nur gespielt hat: das Bein ist hochgebunden, die Krücken gehören ihrem Onkel, der im Zimmer nebenan mit amputiertem Unterschenkel im Bett liegt. Als sie anschliessend in den Hof tritt, wird sie vom Vater mit einer schallenden Ohrfeige empfangen.

Die Phantomschmerzen zirkulieren umso leichter, als sich die Zeitebenen visuell nur minimal voneinander abheben: Hinweise auf den historischen Kontext liefern allenfalls das Kerzenlicht, das Schild, das auf die nahe «russische Zone» verweist, oder das neue Handy. Verstärkt wird der Eindruck einer «ungefähren» Wahrnehmung überdies durch die Entscheidung, den Blickwinkel auf das Geschehen den jugendlichen Protagonistinnen zu überlassen. Oft ist die Kamera auf Kindeshöhe, im szenischen Abseits platziert, was den Eindruck einer fragmentarischen Erfassung der Wirklichkeit verstärkt: Es ist der lastende Blick der siebenjährigen Alma auf die förmlich schreckgelähmte Magd Trudi, der einen erraten lässt, dass die junge Angestellte des Hofs anfangs des 20. Jahrhunderts vermutlich zwangssterilisiert wurde, um «für die Männer keine Gefahr darzustellen». 

Im Gespür für die Altlasten der deutschen Geschichte bietet «Sound of Falling» augenfällige Parallelen mit Hanekes «Das weisse Band». Im Gegensatz zum österreichischen Altmeister baut Schilinski jedoch auch auf Bilder, die sich an der Schnittstelle von Wirklichkeit und Vorstellungsvermögen ansiedeln und in denen sich Surrealismus und Horrorvision die Waage halten: so etwa die Fliege, die in den offenen Mund eines schlafenden Kindes eindringt, so auch die Buñuelsche Szene, in der eine Nadel in Nahaufnahme ein Lid auf ein Auge näht. Auf Deutsch trägt der Film den Titel «In die Sonne schauen», was eher zu einer individuellen Lesart einlädt. Für den internationalen Verleih hat sich die Produktion offenbar entschlossen, die kollektive Ambition der Inszenierung hervorzuheben.

Der verzweifelte Humor einer Erzählung Kafkas

Der ukrainische Regisseur Sergei Loznitsa, der dieses Jahr mit der Romanverfilmung «Two Prosecutors» (die Vorlage stammt vom russischen Autor Georgi Demidow) in den Wettbewerb aufgenommen wurde, hat sich für seinen Rückblick auf Stalins Säuberungswellen für eine radikal nüchterne Filmsprache entschieden: die in graubraunen Mischtönen gehaltene Inszenierung besteht ausschliesslich aus Fixeinstellungen und baut auf langatmige Szenen und feine Wiederholungen, um die innere Logik der kalten Vernichtungsmaschinerie freizulegen. 

Nach einer Eröffnungssequenz, die die Zufälligkeit der folgenden Handlung betont, sehen wir den jungen Staatsanwalt Kornev (Alexander Kuznezow, den man aus Kirill Serebrennikows «Leto» kennen kann) in die Strafanstalt einer russischen Provinzstadt eintreten, um abzuklären, ob der Gefangene Stepniak (Alexander Filippenko) tatsächlich ein Volksfeind ist oder eventuell als Opfer korrupter Beamten des «Volkskommissariats für innere Angelegenheiten» gelten kann. Während langen Minuten schreitet Kornev durch zahllose Türen, bis er im Herzen der sowjetischen Hölle schliesslich einem alten Bolschewiken begegnet, der sich trotz seiner gebrochenen Rippen und inneren Verletzungen nicht zur Selbstanklage durchgerungen hat.

Die anschliessende Fahrt Kornevs nach Moskau, wo er seinen fernen Vorgesetzten Andrei Wyschinski auf die Möglichkeit eines Justizirrtums aufmerksam machen will, hat die Trockenheit und den verzweifelten Humor einer Erzählung Kafkas: Im Zug trifft er auf einen verwahrlosten Greis, der von einem fehlgeschlagenen Treffen mit Lenin berichtet (Kornev schläft während der Reise ein und verpasst die Gelegenheit, die Anekdote als Warnung zu verstehen). Als er schliesslich im Gebäude der Staatsanwaltschaft ankommt, muss er eine endlose Treppe hochsteigen und anschliessend stundenlang im überfüllten Vorzimmer auf eine Audienz warten. 

Erinnert man sich daran, dass Wyschinski 1937 bei den Moskauer Schauprozessen federführend war, ist es einfach, sich das Folgende auszumalen. Die hypnotische Wirkung von Loznitsas hochdiszipliniertem Regiestil (der im intensiv-minimalistischen Schauspiel Kuznezows eine ideale Entsprechung findet) beruht auf dem Feingefühl, mit dem «Two Prosecutors» das singuläre Schicksal Kornevs ins Allegorische überhöht, ohne je einen Zweifel daran zu lassen, dass die Geschehnisse, die mittlerweile ein knappes Jahrhundert zurückliegen, sich gut auch heute abspielen könnten.

Zwischen «Mad Max» und Antonioni

Ungesehenes zeigt auch «Sirat», die jüngste Produktion des Franko-Spaniers Oliver Laxe, selbst wenn der Film einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt und die Kritik wie bislang keine andere Produktion gespalten hat. Doch wie auch immer man die Schockwellen empfängt, die der Film nach einer einstündigen Latenzzeit aussendet: «Sirat» will sichtlich filmisches Neuland betreten. 

In der Eingangssequenz sehen wir, wie eine Batterie von Lautsprechern in der marokkanischen Wüste installiert wird; als die Tonanlage steht und ersten Takte des Technosounds erklingen (Komposition: Kangding Ray), füllt sich das Gelände mit Party-Nomaden, unter die sich nach mehreren Minuten ein Mann mischt, der einen Flyer verteilt: Luis (Sergi López, einer der wenigen Berufsschauspieler), der zusammen mit seinem Sohn Esteban seine seit fünf Monaten verschwunde Tochter sucht. 

Wortlos – die Bässe übertönen alles – reichen sich die Partygänger die Suchanzeige weiter, bis Luis von einer abseits sitzenden jungen Frau erfährt, dass im Süden des Landes eine andere Raveparty stattfinden soll. In der Folge, nachdem Luis und Esteban sich der Frau und ihren Freunden angeschlossen haben und im Wagenkonvoi durch die Steinwüste fahren, wird «Sirat» zum Road-Movie: das Outfit der Figuren und das prä-apokalyptische Ambiente (wir sind nahe am dritten Weltkrieg, ist über die Radionachrichten zu erfahren) erinnern unweigerlich an die jüngsten «Mad-Max»-Produktionen, wobei auch der Gedanke an Antonioni nie fern ist.

Auf der Fahrt machen sich bisweilen Dissonanzen bemerkbar: Eine Kolonne von Militärlastern deutet an, dass sich das Land im Ausnahmezustand befindet, später halten Luis und die Raver in einer Festungsruine, in der ein mit Maschinengewehren bestückter Pickup geparkt ist. Die leise Beunruhigung, die sich einstellt, scheint die Gruppe jedoch eher zusammenzuschweissen: Nach einem anfänglichen gegenseitigen Misstrauen entsteht eine seltsame Schicksal-Community, die sich wie ein Entwurf einer utopischen Gesellschaft ausnimmt.

Als die Wagenkolonne nach einer Filmstunde ein Gebirge durchquert, ereignet sich jedoch eine Tragödie, die «Sirat» in eine grundlegend neue Richtung führt. Das Drehbuch scheint das Interesse an der Reise unvermittelt zu verlieren und sich, anstatt die Thematik der Selbsterfahrung weiterzuverfolgen, die Frage zu stellen, was mit einer Figur geschieht, wenn diese alles verloren hat. In formaler Hinsicht spiegelt sich diese Problematik in den asketischen Bildern, die von den Hammerschlägen der Tonspur nun förmlich zerrissen werden. Wenn man diese Umsetzung für schlüssig erachtet, wird man auch dem Film applaudieren können.

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