Am Festival, das am 13. Mai eröffnet wurde, konkurrieren dieses Jahr zweiundzwanzig Langspielfilme um die Goldene Palme. Verliehen wird der Preis am 24. Mai, von einer internationalen Jury, die von der Schauspielerin Juliette Binoche präsidiert wird. Berücksichtig man die Nebenselektionen, werden an der Côte d’Azur insgesamt gegen hundert Produktionen zu sehen sein — darunter eine Folge der Mission-Impossible-Franchise, «The Final Reckoning», mit Tom Cruise.
Das Kino wird dieses Jahr hundertdreissig Jahre alt – die erste öffentliche Vorführung des «cinématographe» (unter anderem mit «La sortie de l’usine Lumière à Lyon» und «La mer») fand am 28. Dezember 1895 im Pariser Grand Café vor 33 zahlenden Gästen statt. Wie sehr sich der Film seither zwar in seiner formalen und technischen Beschaffenheit, nicht aber in seiner Wirkungskraft verändert hat, lässt sich an der Programmreihe Cannes Classics ablesen, die das Erbe der Filmgeschichte dank restaurierten Kopien aufwerten will und diesjährig mit Chaplins «The Gold Rush» eröffnet wurde. Der schwarzweisse Stummfilm, 1925 entstanden, hat weder an seiner emotionalen Schärfe noch an seinem Potential an Komik verloren. Auch der «Brötchentanz» hat das Jahrhundert, das seit seiner Premiere vergangen ist, sichtlich unbeschadet überstanden.
Natürlich kann man die Originalität und die Präzision, mit der Chaplin die existenziellen Aporien ausmisst, nicht von jeder Produktion erwarten. Dennoch erscheint der französische Beitrag «Partir un jour», die Erstinszenierung der jungen Regisseurin Amélie Bonnin, die zum Eröffnungsfilm erkoren wurde, zwar sympathisch, in seiner inszenatorischen Ambition jedoch eher unterdimensioniert.
Der naturalistisch grundierte «film musical», der von einer TV-Starköchin erzählt, die ihrem kranken Vater im familiären Restaurant beistehen muss, baut auf einige gute Schauspielmomente (die Sängerin Juliette Armanet und Bastien Bouillon), denen es allerdings nur selten gelingt, den monotonen Rhythmus der Regie unter Spannung zu setzen. Vor allem das internationale Publikum, das nicht auf die französische Lesart des Musical-Genres geeicht ist, wie es einst von Jacques Demy geprägt wurde, wird die vom Festivalleiter Therry Frémaux getroffene Wahl wohl nur schwer nachvollziehen können.
«Autokraten und Faschisten dieser Welt»
Was ist von der diesjährigen Ausgabe zu erwarten? «Cannes», das liess sich gleich am ersten Abend erkennen, besitzt weiterhin genügend Strahlkraft, um die Aristokratie Hollywoods anzuziehen. Die Ehrenpalme, die dieses Jahr an Robert De Niro ging, wurde dem Altmeister von Leonardo DiCaprio verliehen, Quentin Tarantino war angereist, um die Edition offiziell zu eröffnen. Vor allem die stark engagierte Dankesrede von De Niro, der dazu aufrief, angesichts der «Autokraten und Faschisten dieser Welt» die Demokratie zu verteidigen, liess überdies erkennen, dass die Festspiele aus der Sicht der liberalen Filmindustrie zurzeit als sicherer Hafen angesehen werden.
Es gibt allerdings auch ästhetische Gründe, sich die Programmreihen des Festivals von Cannes genauer anzusehen. Einerseits ist die Côte d’Azur weiterhin einer der attraktivsten Orte, um einen Film zu lancieren: Knapp dreitausend Inszenierungen bewarben sich allein um eine Aufnahme in die Wettbewerbssparte, wie Iris Knobloch, die Präsidentin der Filmfestspiele, an der Pressekonferenz mitteilte. Der riskante Kurs des Auswahlkomitees warf in jüngerer Zeit überdies Fragen auf: Mit seiner Weigerung, Filme in die «compétition» aufzunehmen, die für die audio-visuellen Plattformen produziert wurden, lief das südfranzösische Festival Gefahr, von der Konkurrenz — insbesondere der Mostra in Venedig — ins historische Abseits manövriert zu werden.
7. Oktober, Ukraine
Tatsächlich war allerdings eher das Gegenteil der Fall: die mäandernde Linie der Filmfestspiele, die sowohl den neuen Namen aus Hollywood als auch den innovativen Produktionen aus Asien und Europa Rechnung trug, hatte sich in den letzten Jahren vermehrt auch auf dem Weltmarkt durchsetzen können. Sowohl für «Parasite» als auch für «Anatomie d’une chute» und «Anora» begann mit dem Gewinn der Palme d’Or eine internationale Karriere, die jeweils mit einer – oder mehreren – Oscar-Statuen ihre Krönung erfuhr.
Andererseits bietet das Festival auch die Gelegenheit, das Verhältnis zu untersuchen, das das Filmschaffen mit dem Weltgeschehen unterhält – und so wie es aussieht, schickt sich die diesjährige Ausgabe an, die Konfliktzonen auch auf die Leinwand zu hieven: Drei Produktionen aus dem Nahen Osten sind in den verschiedenen Sektionen programmiert (darunter «Yes» des Israeli Nadav Lapid, der in der unmittelbaren Folge des 7. Oktobers angesiedelt ist), während die Ukraine bereits am Eröffnungstag mit drei Dokumentarfilmen geehrt wurde. Im Hauptprogramm wird in der Folge Serguei Loznitsas «Two Prosecutors» zu sehen sein, während die «Quinzaine des cinéastes» den Dokumentarfilm «Militantropos» zeigen wird.
Generationenwechsel
Was verspricht die «Sélection officielle» im Übrigen? Neben den Filmen der bekannten Grössen – Wes Anderson und die frères Dardenne, Jafar Panahi und Kelly Reichardt – macht sich in erster Linie ein Generationenwechsel bemerkbar. Mehrere Produktionen lassen überdies eine Erosion der herkömmlichen Kategorien erkennen. Mit Hafsia Herzi, Romane Bohringer, Scarlett Johansson und Kristen Stewart haben sich vier Schauspielerinnen hinter die Kamera begeben, wobei die beiden Amerikanerinnen jeweils eine Erstinszenierung in den Festivalpalais schicken («Eleanor the Great» und «The Chronology of Water»). Die Italiener Matteo Zoppis und Alessio Rigo di Righi liefern mit «Testa o croce?» eine humoristisch verfremdete Westernvariation, während Francesco Sossai in «Le città di Pianura» das Genre des Road-Movie aufgreift. Mario Martone, der 2014 mit dem Leopardi-Biopic «Il giovane favoloso» aufgefallen war, ist dieses Jahr mit einer Annäherung an die Lebensgeschichte (und das Schicksal als Künstlerin) der Schriftstellerin Goliarda Sapienza vertreten.
Kleber Mendonça Filho, dessen «Bacurau» vor sechs Jahren den Jury-Preis davontragen konnte, präsentiert nun «O agente secreto», der sich gemäss Ankündigung allerdings weniger an Joseph Conrads gleichnamigem Roman als am Klima der bleiernen Jahre der Diktatur Brasiliens orientieren soll. Hybrid nimmt sich schliesslich auch Richard Linklaters «Nouvelle Vague» aus, der die Dreharbeiten von Jean-Luc Godards «A bout de souffle» nachinszeniert. Nach der Jahrtausendwende hatte der Amerikaner aus seinen über zwölf Jahren angelegten Dreharbeiten das Porträt eines Jugendlichen herausdestilliert («Boyhood»); hier scheint er sich auf die explosive Wirkung eines historischen Werks konzentriert zu haben. «Vous n’avez rien contre la jeunesse ?» – Vor fünfundsechzig Jahren war die Frage, wie sie in Godards Film zu hören ist, programmatisch gemeint. Einen ähnlich innovativen Moment zu initiierten wie jener, der damals von der französischen Nouvelle Vague ausgelöst worden war, ist vermutlich ein Wunschtraum, den jede Festivalleitung vor der Eröffnung hegen dürfte.