
Jeden Morgen schaue ich als erstes auf die Wasserfläche unter mir, um mich der Flussrichtung zu vergewissern, und darin die Himmelsrichtungen abzulesen. Die ununterbrochene Weite der Horizontlinie gibt wenig Anhaltspunkte, und die vielen Drehungen und Wendungen des Flusses würden, wenn man nicht ständig das Ortungssystem des Körpers aufriefe, die Fahrt in einen richtungslosen Taumel versetzen.
Aber nach Monghyr und einem letzten grossen Loop richtet sich der Ganges wieder klarer ostwärts. Vielleicht verdankt er dies dem Zufluss des Kosi, ebenfalls ein riesiger mäandernder Strom, der die Wassermenge des Ganges noch einmal um ein Viertel anschwellen lässt. Er entwässert ganz Ostnepal einschliesslich der Everest-Wasserscheide, und der Arun-Seitenfluss bringt das Schmelzwasser im West-Abhang des riesigen Kanchenjunga-Massivs zu Tal.
Das System der Flüsse
Und dann meldet sich auch schon das Nahen des anderen grossen Flusssystems. Es ist der Brahmaputra, mit dem der Ganges das weltweit grösste Flussdelta von Bengalen geschaffen hat. Im Gegensatz zum Ganges nähert sich der Brahmaputra von Osten. Nach eintausend Kilometern entlang der tibetischen Seite des Gebirges in Richtung China hat dieser auf der Höhe von Assam plötzlich abgedreht und fliesst nun westwärts dem Ganges entgegen.
Eine Distanz von rund hundert Kilometern trennt die beiden noch, als sie sich voreinander zu verbeugen scheinen und nach Süden abdrehen, bevor sie sich dann im Herzland von Bangladesch doch noch vereinen. Beide hätten sie mit ihren vielen Begleitarmen Anspruch auf die nun folgende letzte Namengebung zum Indischen Ozean. Sie geben diesen jedoch respektvoll ab, mit einer neuen – weiblichen – Bezeichnung: Padma.
Mit der Drehung Richtung Meer ändert sich auch das Uferbild. Immer häufiger werden die Felder durch bewohnte Siedlungen unterbrochen, die im Grün baumbesäumter Dammstrassen auszumachen sind. Die Treppen in den Fluss verlieren ihren spirituellen Vorrang und werden Waschplätze und Planschbecken für die Kinder. Die Querfahrten von Fährschiffen vermehren sich, Fischerboote rudern hastig aus unserem Fahrwasser.
Und es kündigt sich … die Politik an. Denn im Korridor zwischen Brahmaputra und Ganges läuft nun eine weitere, unsichtbare Furche: Die Staatsgrenze zwischen Indien und Bangladesch. Diese mäandert ebenfalls, nähert sich dem Ganges bis an dessen Ufer, wenn dieser ein letztes Mal nach Osten abdreht und eine Reihe kleiner Flussadern ins südliche Westbengalen auslaufen lässt. Dann weicht sie wieder zurück. Beim Dorf Farakka wird der Ganges in seiner vollen Breite zum ersten und einzigen Mal von einem Damm aufgehalten, mit zahlreichen Schleusen unter sich.
Indien errichtete das riesige Wehr in den sechziger Jahren. Die offizielle Version lautete, es müsse genügend Flusskraft abzweigen, um den Hafen von Kalkutta vor dem Versanden zu retten. Zweifellos spielte Delhi damals auch die Trumpfkarte eines Oberlauf-Staates aus, um dem ungeliebten Nachbarstaat (Ost-)Pakistan, dem heutigen Bangladesch, buchstäblich das Wasser abzugraben.
Kurz vor der Grenze – und seinem Namensverlust – zweigt ein letzter Ganges-Abfluss in Richtung Westbengalen ab. Unser Schiff wird kurz davor in einen Kanal eingewiesen, der ein Dutzend Kilometer weiter in diesen einströmt. Statt Ganges heisst er nun Bhagirathi – so wie er genannt wird, wenn er 2500 Kilometer flussaufwärts aus dem Himalaya-Gletschermund schiesst.
Hunger nach Gütern
Und plötzlich eilt es auch hier. Wir müssen möglichst rasch die Gezeitenzone auf der Höhe von Kalna erreichen, wo (200 Kilometer vom Meer entfernt) der Fluss zum ersten Mal bei Gezeiten-Flut zu steigen beginnt. Die Regierung in Dhaka hat nämlich überraschenderweise das Übergangsregime des Wasser-Teilens während der Trockenzeit aktiviert. Es sieht vor, dass in zwei Tagen drei Viertel des Wasservolumens elf Tage lang nach Bangladesch geleitet werden, bevor dieselbe Menge und Dauer Indien zuteil werden. Der Bhagirathi, fürchtet der Kapitän, wird also in Kürze nicht mehr genug Wasser führen, um noch schiffbar zu sein.
Die Nachbarschaftsbeziehung beider Staaten wird zunehmend pricklig, nachdem im letzten August ein Volksaufstand in Bangladesch die indienfreundliche Regierungschefin Sheikh Hasina ins indische Exil getrieben hat. Damit wird auch die Verteilung des Gangeswassers wiederum zu einem Politikum. In einem Jahr läuft zudem der 30-jährige bilaterale Wasservertrag ab, und beide Seiten manövrieren sich in eine möglichst günstige Verhandlungsposition, sagt der Schiffsmanager. Wir müssen also in zwei Tagen hundert Kilometer zurücklegen, und mehrere Kurzaufenthalte fallen dahin.
Aber auch sonst ändert sich unsere Blickrichtung. Bisher nahmen wir jene des Ganges ein, der, getragen von seinem physischen und historischen Gewicht, riesige Landstriche in seine Arme nahm. Nun meldet sich eine andere Geschichte von «Landnahme», und der Blick kommt flussaufwärt, vom Meer her: Die koloniale Eroberung des Gangesbeckens. Nach einem ersten Abtasten durch portugiesische und holländische Händler war es Mitte des 18. Jahrhunderts die East India Company, die den Hunger nach Gütern – Textilien, Farbstoffe, Gewürze, Sklaven – mit Landhunger untermauerte.
Wir machten in Murshidabad Halt, damals die Hauptstadt Bengalens. Einen Tag zuvor hatten wir noch in der ersten Hauptstadt namens Rajmahal («Königsresidenz») Halt gemacht, aber nichts Königliches erwartete uns. Das einzig Bemerkenswerte waren die zahlreichen Lastwagen voller Schotter, die auf die Fähre über den Fluss warteten. Er kam aus dem Hügelgebiet von Jharkhand – kostbare Fracht für die lehmigen Ganges-Böden, wo man geschätzte 200 Meter tief graben müsste, um auf Stein zu stossen.
Absehbarer Wassermangel
In Murshidabad finden wir dagegen hoch über dem Fluss einen ansehnlichen Palast mit dem stolzen Titel Hazar Dwara – «Tausend Türen» - vor, unter dem wir Anker warfen. Und nur einige Dutzend Kilometer weiter südlich fahren wir am Dorf Plassey vorbei. Dort hatten die Engländer 1757 die Truppen des Moghul-Gouverneurs praktisch kampflos ausser Gefecht gesetzt. (Robert Clive setzte dafür die frühkapitalistische Waffe par excellence ein – Schmiergeld). Sie liessen dem Nawab seinen Tausend-Türen-Palast, und dieser beeilte sich, ihn mit riesigen Gemälden englischer Offiziere zu behängen. Die Hauptstadt dagegen gehörte nicht mehr ihm. Sie wurde in den englischen Brückenkopf Kolkata in der Hooghly-Mündung verlegt.
Doch wie kamen wir vom Bhagirathi auf den Hooghly, um die grosse Metropole nicht zu vergessen? Einfach: ein erneuter Namenswechsel. Denn in Kalna, wo uns zum ersten Mal die Gezeiten-Flut etwas hochschaukelt, wird dies mit einer neuen Namenstaufe angezeigt, der vierten insgesamt. Doch nun sind wir wieder in sicherem Wasser und können erneut Ausflüge unternehmen.
Allen voran gelten sie den wunderschönen kleinen Terrakotta-Tempeln von Baranagar, Kalna und Guptipara. Deren Fassaden wimmeln von Figuren und Geschichten, mit Gangeslehm meisterhaft geformt und in Ganges-Lehmöfen gebacken. Die typische bengalische Dachkonstruktion ahmt die aufgehäuften Strohgarben nach. Eine breite Tuchbahn wird darüber gezogen, Bambusstangen, bis zum Brechen gespannt, werden an den vier Ecken festgetäut und geben dem Dach die elegante Bogenform.
Die wandernde Insel
Endlich habe ich auch die Musse, meine Notizen vom «Wandern» der Inseln hervorzuholen, als wir einmal bei einem Char vor Anker gingen. Dies sind die langgezogenen Sandinseln, die sich lange genug über Wasser halten, um Vegetation anzusetzen. Am unteren Ende lagert das Wasser Sand an und beginnt sich zu festigen. Am oberen Ende, wo über einige Jahre ein langgezogener Buckel gewachsen ist, geschieht das Gegenteil: Grosse Erdbrocken fallen in den Fluss. So verkürzt sich oben die Insellänge, während sie unten wächst – die Insel wandert flussabwärts. Die Hütte des Bauern dagegen wandert von unten nach oben, bis auch sie wieder abgetakelt werden muss und unten eine neue Runde beginnt.
Nun sind die Chars alle quasi ins Wasser gefallen. Seit Tagen nun hat der Ganges/Bhagirathi/Hooghly Fahrt aufgenommen und trägt den Sand bequem Richtung Meer. Wenn ich auf den fliessenden Teppich unter mir schaue, um die Fahrtrichtung festzustellen, mag die aufkommende Gezeitenflut kurz den Eindruck wecken, der Fluss bewege sich talaufwärts. Aber das verwirrt mich nicht mehr. Die Uferlandschaft bietet dem weiten Strom nun Paroli und setzt klare Markierungen, wohin die Fahrt geht: in Richtung der Stadt.
Die Kamine der Ziegeleien weichen den höheren der Jute-Industrie, Wasserschlösser pumpen den Ganges in breiten Röhren über die Dammstrassen in die Fabriken. Es ist nicht mehr das heilige Ganga Jal, sondern industriell genutztes Graues Wasser. Nur der Glaube bleibt, dass alles Materielle seine sakrale Potenz beibehält. Bereits bei der nächsten Flusskehre kann sie sich erneut manifestieren.