
Endlich sitzen wir nach der langen Autofahrt am Vortag wieder im Boot, unserem kontemplativen Verkehrsmittel. Das Blickfeld ändert abrupt vom satten Grün der Weizen- und Reisfelder auf gleissendes Weiss. Die Sandwände, die aus dem Wasser ragen, zeigen noch Spuren von Vegetation. Gewaltige Brocken plumpsen dann und wann ins Wasser. Sie scheinen sich unter der Oberfläche wieder zu Sandbänken zu formen, denn immer wieder kommt das Boot ins Stocken, weil sich das Wasser zu einer dicken Brühe verquirlt hat.
Hinter der Uferwand öffnet sich ein blendendes Weiss von Sand, das die Vegetation weit nach hinten zum Horizont verschoben hat, wo die Baumlinien fast wie eine Fata Morgana schemenhaft sichtbar werden. Alle paar Stunden unterbricht Felsgestein diese Monotonie, Treppen führen aus dem Wasser die Böschung hoch, halb verfallen und noch voller Sand. Dahinter steht dann oft ein Tempel, oder es beginnt – wie im Städtchen Barh – direkt der Bazar, mit Gemüse- und Früchtekarren, wartenden TukTuks und dem ohrenbetäubenden Hupen der Vespas.
Erst nach einigen Tagen dämmert es mir, dass die leere Sandebene fast immer auf der Nordseite auszuufern beginnt. Die kleinen Hügelrücken, ebenso wie die vielen Ghats, säumen jeweils die rechte Uferböschung. Und auch die Siedlungen liegen meist über dem linken Flussufer. Der Schiffskapitän bestätigt meine Vermutung: Der Ganges wandert langsam nordwärts ab, obwohl sich dort der Himalaya in die Höhe schwingt, wenn auch erst nach etwa 200 Kilometern. Von den grossen Städten liege nur Varanasi am Nordufer, sagt er, weil dort ein Hügelrücken bis zum Ganges vorstösst.
Ich erinnere mich plötzlich an meine Zeit in Delhi, als wir manchmal von einem Freund in sein Wochenendhäuschen eingeladen wurden, das direkt am Jamuna lag. Er habe Glück gehabt, sagte er uns einmal, denn sein Land dehne sich immer weiter aus, weil der Fluss nach Nordosten zurückweiche. Seine Freunde auf der anderen Seite, fügte er lachend hinzu, hätten das Nachsehen; deren Uferland werde zunehmend überschwemmt.
In weisses Tuch eingewickelter Leichnam
In Barh merkt man allerdings wenig vom «Landgewinn», ausser dass das seichtere Südufer es den Menschen dort leichter macht, am Morgen im Wasser Stand zu finden, um die Reinigungsrituale durchzuführen, an einer aperen Stelle die Kleider zu wechseln und gleich zu waschen. Um diese Jahreszeit findet sich auch Platz für handfesteres Zeremoniell – etwa das Aufschichten von Scheiterhaufen für ein Feuerbegräbnis.
Beim Spaziergang unserer Reisegruppe durch das Dorf hören wir plötzlich laute Rufe. Ich drehe mich um und sehe, dass sich ein halbes Dutzend Männer nähert, mit einem Katafalk aus Bambus-Streben auf den Schultern. Wir folgen dem in weisses Tuch eingewickelten Leichnam. Er wird, vorbei an Bergen von Feuerholz, die Treppen hinuntergetragen und mitsamt der Bahre auf den Holzstoss gelegt.
Wir schauen ihnen von weitem zu, zusammen mit Schaulustigen aus dem Dorf. Ich frage einen jungen Mann namens Ashutosh, ob er den Toten gekannt habe. Ja, sagt er, er komme aus einem Nachbardorf und sei letzte Nacht erschossen worden. Ich schlucke leer, frage dann verwirrt, ob das häufig vorkomme. Ashutosh lacht und meint, fast stolz, «Sie kennen doch Bihar – Crime Capital of India». Deshalb bemühe er sich um einen Job bei der Polizei. «Hamesha busy», immer sei dort etwas los.
Die Frau lässt sich mit ihrem toten Mann verbrennen
Über die Umstände der Tat lässt er sich nichts entlocken. Nur dass das Opfer etwa 35 Jahre alt gewesen sei. Zumindest erleichtert mir diese Information, die Szene unten am Ufer besser zu verstehen. Der Brauch will es, dass beim Tod des Familienoberhaupts der älteste Sohn das Feuer entzündet. Doch die Person, die mit einem brennenden Scheit rund um den Holzstoss Feuer legt, ist ein Kind, etwa acht Jahre alt und ganz in Weiss gekleidet. Ein älterer Mann trägt es vor sich, hält jeweils kurz, damit das Kind sich mit der Fackel vorbeugen kann, und geht weiter.
Später, als wir die Szene verlassen, erblicke ich einen kleinen Tempel. Er ist mit einer Holztür verschlossen. Doch das Gitter erlaubt den Blick nach innen. An der Gegenwand lehnte eine bunt bemalte Gipsstatue einer Frau im Yogasitz, vor ihr der Leichnam ihres soeben verstorbenen Ehemanns. Sie wird in Kürze den Holzstoss besteigen, auf dem ihr Mann liegt, und sich mit ihm verbrennen lassen. Das Tempelchen drückt die Verehrung für eine Sati aus, die dem alten Witwen-Gebot gehorcht, sich zu opfern. Auf dem Boden hinter der Tür liegen zerknitterte Geldscheine und viel Kleingeld herum.
Etwa sechzig Kilometer südlich von Barh liegt die Ruinenstätte von Nalanda. Vor zwanzig Jahren, erzählt unser Führer, habe die Fahrt dorthin noch vier Stunden gedauert. Der Bauernpolitiker Lallu Yadav hatte damals seinen Wählern versprochen, unter ihm würden sich Bihars löchrige Strassen bald «so glatt anfühlen wie die Wangen von Hema Malini», einer Bollywood-Schauspielerin. Dass es tatsächlich so weit kam, ist wohl dem Wahlvolk zu verdanken, das der Prahlereien Yadavs schliesslich überdrüssig wurde und ihn abwählte.
Vor 1500 Jahren war Nalanda eine Kloster-Universität, mit der damals wohl grössten Bibliothek der Welt. Mehrere tausend Mönche aus Sri Lanka, Südostasien, China, Korea und Japan studierten hier, um Buddhas Lehre vom vierfachen Pfad in die Welt zu tragen. In Indien wurde sie derweil vom Hinduismus verdrängt, der Buddha kurzerhand als Avatar Vishnus einordnete.
Das riesige Gelände lag im Ganges-Sand vergraben, als es im 19. Jahrhundert von Sapeuren der britischen Kolonialarmee entdeckt wurde. Sie waren auf Berge loser Lehmziegel aufmerksam geworden, die von lokalen Unternehmern herausgebuddelt wurden, um als Baumaterial zu dienen. Es waren die Überreste des Grossen Stupa im Zentrum von Nalanda.