
Unsere Bootsfahrt auf dem Ganges begann mit einem Road-Trip – und dies wegen des Ganges. Auf halbem Weg von Varanasi nach Patna liegt Ghazipur, und dort fächert der Fluss so weit aus, dass viele Rinnen nicht mehr genügend tief wären, um selbst unser Flachboot mit einem Tiefgang von bloss 1,2 Metern vor dem Bodenaufprall zu verschonen.
Jahrtausende von Lössablagerungen haben die Uferlandschaft geebnet. Diese weitet sich während des Monsuns zu einem veritablen See von acht bis zehn Kilometern Breite aus Selbst nach vier Monaten Trockenzeit dehnen sich die vielen schlingernden Arme immer noch auf einen Kilometer Fluss aus.
Sandbänke unter Wasser
Die nachlassende Strömung sorgt nun für die Bildung von Sandbänken und diese schaffen neue Abflussrinnen. Die eigentliche Gefahr sind dabei die Sandbänke unter Wasser. In der trägen Strömung gewinnt eine Wolke lösshaltigen Wassers rasch an Konsistenz, wird schwerer, setzt auf und wächst zu einer Sandbank, die es eine Woche zuvor noch nicht gab. Der Lotse vorne am Bug sieht plötzlich einen hellen Schatten unter der quirlenden Wasserfläche und signalisiert sofort «Rückwärtsgang!» – manchmal zu spät.
Ich bedauere die entgangene Chance, diesen Schlenker um Ghazipur zu machen. Der Grund ist aber nicht der verwehrte Kitzel eines möglichen Abenteuers, sondern weil wir sonst an einem riesigen alten Fabrikgelände vorbeigekommen wären, das ein wichtiges – und trauriges – Kapitel Kapitalismusgeschichte geschrieben hat. (Erst später vernehme ich, dass auch dieses frühere Ufergelände inzwischen weit weg vom Flusslauf entfernt liegt.)
Früherer Mohnanbau für religiöse Zwecke
Dafür fahren wir auf gut ausgebauten Strassen durch eine unendliche Weite von Grün, über das sich ein filigranes Raster legt und die Weizenfelder in kleinräumige Parzellen auftrennt. Nur schmale Pfade laufen den Rändern entlang zu den Feldern. Sie lassen mich argwöhnen, dass das Fehlen von Fahrwegen – und damit von Traktoren – auch das Fehlen einer mechanisierten Landwirtschaft und von integrierten Betrieben anzeigt.
Dafür ist der wirtschaftliche Prozess schuld, den die Fabrik von Ghazipur symbolisiert. Denn in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hätte das Auge neben dem weiten Grün auch zahllose rote Punkte entdeckt – die Blätter der Mohnblume. Mohn war in Indien immer schon angepflanzt worden. Das aus dem Saft der Kapsel gewonnene Opium genügte in erster Linie rituellen Bedürfnissen, namentlich in der heiligen Stadt Benares. Diese quasi religiöse Bindung verhinderte vielleicht, dass daraus ein gefährliche Droge wurde.
Dies änderte sich rund um die Jahrhundertwende von 1800. Die englische «East India Company» beherrschte damals schon grosse Teile des unteren Gangesbeckens. Nur eine Generation zuvor hatte sie 1765 in Buxar, vierzig Kilometer östlich von Ghazipur und ebenfalls am Ganges gelegen, der Armee des Moghul-Kaisers eine schwere Niederlage beigebracht. Nun bestimmte sie über das Leben (und den Tod) der Einwohner, die zuvor ihre Abgaben an die Moguln entrichtet hatten.
Forcierter britischer Opiumhandel mit China
Die EIC monopolisierte den ganzen Indienhandel, ein Mandat, das auch das Recht einschloss, eine Armee zu mobilisieren und Krieg zu erklären. Sie hielt auch das Monopol für englische Teeimporte aus China. Tee war im England des 18. Jahrhunderts zu einer regelrechten Konsumdroge geworden. Doch Grossbritannien verfügte kaum über Exportgüter, die China interessiert hätten. Die «Company» musste dafür mit Silbermünzen bezahlen. Dies führte zu eine regelrechten Devisenknappheit und drohte den Finanzhaushalt der Krone in eine Krise zu stürzen.
Der Zugriff zu einer anderen weit härteren Droge bot Abhilfe. Die EIC wusste, dass die Holländer in Malakka und auf den Molukken bei lokalen Fürsten Opium eingesetzt hatten, um für Handelsrechte bei Gewürzen günstige Bedingungen durchzusetzen. Warum nicht den Export von Opium nach China als Tausch für den heissbegehrten Tee nutzen – und dies weit weg im indischen Hinterland, wo niemand hinschaute?
China erlaubte zwar Opium-Einfuhren, sie wurden aber hoch besteuert und auf geringe Mengen begrenzt. Warum nicht den Schmuggel forcieren? Er war nichts als die radikale Form des neuen Mantras «Freihandel»: die «unsichtbare Hand des Marktes», die dem Empire das Tor zu Reichtum öffnete, wie es ihr Landsmann Adam Smith soeben verkündet hatte?
Ich lese an Bord der «Ganga Vilas» im Buch von Amitav Ghosh («Fire and Smoke»), wie die Company dabei zu Werk ging. Sie zwang die Bauern in der Region zwischen Benares und Patna, Mohn anzupflanzen und ihr den Saft aus der Kapsel billig und exklusiv zu verkaufen. In den zwei grossen Fabriken von Benares/Ghazipur und Patna wurde dieser zu Klumpen verarbeitet und unter militärische Bewachung nach Kolkata verschifft. Dort auktionierte die Kolonialverwaltung die Blöcke an private englische Händler, deren Schiffe nach China segelten und die kostbare Fracht am Perlfluss im Mündungsgebiet von Kanton in die Boote chinesischer Schmuggler umluden.
Wie sich die Opiumsucht in China ausbreitete
Damit die Bauern nicht einen Teil der Ernte abzweigten, um ihr mageres Einkommen zu verbessern, baute die Kolonialverwaltung eine allmächtige Behörde auf, die weitgehend unabhängig von den englischen Magistraten operierten. Mehrere tausend indische Angestellte, Informanten, Lokalagenten stellten sicher, dass kein Schwarzhandel (!) aufkam und die Ware am Auktionshandel vorbei auf den China-Schiffen landete.
Die Nachfrage nach dem schwarzen Gold wuchs rasch, als sich zeigte, dass viele Chinesen anfällig waren für dessen süssen Rauch. Sie war bald so gross, dass die Einkünfte des Staates aus diesem Schmuggelgeschäft mehr als dreissig Prozent des jährlichen Budgets des Kolonialstaats abdeckten und die Ausgaben für Tee mehr als kompensierten. Selbst ein kaiserliches Einfuhrverbot konnte nichts gegen die fieberhafte Nachfrage ausrichten. Es war, so schreibt Amitav Ghosh, eine Übungsanlage für den ersten «Narko-Staat» der Geschichte.
Die Britische Krone konnte sich zunächst noch hinter dem Feigenblatt einer privaten Aktiengesellschaft verstecken, mit zahlreichen Westminster-Abgeordneten als Aktionären der East India Company. Damit wurde das Opiumgeschäft auch zum Gesellenstück für ein global tätiges kapitalistisches Unternehmen: Man schafft zuerst einen (für den Körper unersättlichen) Bedarf und steigert dann nach Belieben das Angebot, heisse es nun Opium oder Oxycontin.
Staatliche Opium Factory in Patna
Auch die Geldgier war unersättlich: Als sich der chinesische Kaiser weiterhin widerspenstig verhielt, wurde ihm der Krieg erklärt. Mit Kanonenbooten wurde der Palast des Kaisers besetzt und dieser gezwungen, seine Grenzen zu öffnen und den Schmuggel zu legalisieren.
Heute produziert die staatliche «Opium Factory» in Patna immer noch Opium und sorgt dafür, dass Indien der weltweit grösste Zulieferer für die internationale Pharmaindustrie bleibt (laut Ghosh enthalten rund vierzig Prozent aller Medikamente Opiate). Die Fabrik ist weiträumig abgesichert und Delhi betreibt sein Geschäft mit grosser Diskretion. Ein Besuch der Hexenküche war in unserem Fall nicht ins Auge zu fassen.
Die Opium-Extraktion der Region Bhojpur wurde zur ersten «Cash Crop» der frühen Industriegeschichte. Der Cash floss dann allerdings in die Taschen der East India Company. Die Bauern dagegen verarmten, da sie oft nicht mehr genug Anbaufläche zur Deckung des eigenen Nahrungsbedarfs hatten. Sie waren gezwungen, sich das Überleben durch Fremdarbeit zu sichern. Das Gros der «Sepoys», wie die (indischen) Soldaten der EIC-Armee hiessen, stammte aus dieser Region.
Bis der «Fortschritt» kam
Als die Sklaverei 1834 abgeschafft wurde, sandte die Kolonialregierung «Arbeitsbeschaffer» in die Dörfer im Gangestal, um die nun verarmten Bauern für einen weiteren lukrativen Exportartikel anzuwerben. Dessen Name: «Arbeit». Sie verpflichteten sich, für zehn Jahre in den Zuckerplantagen in der Karibik und in Mauritius eingesetzt zu werden – Sklaven auf Zeit. Die Mischung von Zwang und Anreizen sorgte dann dafür, dass die meisten blieben und ihre Heimat endgültig verloren.
Die Ebene zwischen Varanasi und Patna ist dank «Ganga Mata» – «Mutter Ganges» – weiterhin sehr fruchtbar. Die Kleinräumigkeit des Landbesitzes zeigt aber, dass die Bauern immer noch Subsistenzwirtschaft betreiben. Das Überleben sichern sie sich durch Binnen-Migration, sei es mit Saisonarbeit auf den Getreidefeldern im Panjab oder auf Baustellen sonstwo im Land. Für das indische Ohr klingt «Bihari» heute wie «Tagelöhner». Das ist weit entfernt von der ursprünglichen Bedeutung von «Bihar»: Es war das Land der «Vihara», der vielen buddhistischen Klöster. Die dort geübte Frömmigkeit und Gelehrsamkeit waren wesentlich dem reichen Gangesboden und dessen Bauern geschuldet. Bis der «Fortschritt» kam.