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Architektur

Zuckertorte, aus Beton gedruckt

23. Juni 2025
Fabrizio Brentini
Ansicht Mulegns

Das Bündnerdorf Mulegns wird für die nächsten fünf Jahre einen filigranen Turm besitzen, der an die Künste der Zuckerbäcker im 19. Jahrhundert erinnert. Initiatorin ist die Stiftung Origen, die schon mehrfach mit Kulturprojekten auf sich aufmerksam machte.

Die Stiftung Origen, deren treibende Kraft der Bündner Theologe und Kunsthistoriker Giovanni Netzer ist, stellt sich auf ihrer Website folgendermassen vor: «Origen ist eine Kulturinstitution in den Bergen. Die Nova Fundaziun Origen fördert ein umfassendes Bühnenschaffen, erhält und belebt historische Baudenkmäler, investiert in eine mutige zeitgenössische Architektur, fördert das originäre Kunsthandwerk und engagiert sich für eine qualitätvolle Hotellerie.» 

2005 gegründet richtete Origen in der mächtigen mittelalterlichen Burg von Riom einen Theaterraum ein, der spezifisch für Inszenierungen des rätoromanischen literarischen Schaffens gedacht ist. Weitherum bekannt wurde 2017 der rote, ganz aus Holz konstruierte Theaterturm auf dem Julierpass, der bis zum Abbruch im Jahre 2023 mit einer Höhe von 55 m eine vielbestaunte Sehenswürdigkeit war. 

Seit 2019 versucht Origen die historischen Gebäude im Dorf Mulegns, das vom Aussterben bedroht ist, zu erhalten und mit neuen Zwecken zu beleben. Das betrifft das Posthotel Löwen, das sorgfältig restauriert wurde und seither nebst Gästezimmern und einem Restaurant über einen grossen Saal für kulturelle Anlässe verfügt. Noch im Umbau befindet sich die 1856 von einem französischen Architekten entworfene Weisse Villa, wo der Zuckerbäcker Jean Jegher wohnte. Dieser kam in Bordeaux, wo er für seine Fähigkeiten gerühmt wurde, zu einem beachtlichen Vermögen, das er nach seiner Rückkehr in Mulegns unter anderem in dieses prächtige Domizil investierte. Das Gebäude wurde 2020 um mehrere Meter verschoben und wird seither für eine Nutzung als Museum mit einer Spezialbäckerei instand gestellt. Das Informationszentrum für das gesamte Programm von Origen ist im Telegrafenamt eingerichtet, wo auch Führungen gebucht werden können.

Die Hauptattraktion ist mit der rund dreissig Meter hohe weisse Turm, der «Konzerthaus, Kunstinstallation, Aussichtsturm, Theaterkulisse und Denkmal in einem» sein soll. Als Entwerfer wird Michael Hansmeyer genannt, dessen Arbeit auf seiner englisch verfassten Website als Computational Architecture vorgestellt wird. Seine recht bizarren Realisationen entstanden aufgrund von Algorithmen und sind Resultate anarchischer Prozesse an der Schnittstelle von Mensch und Computer. Diese massig teigigen Gebilde entziehen sich weitgehend einer Beschreibung; sie sind formal derart ausufernd, dass im Vergleich dazu selbst die komplexesten Rokokostuckaturen als puristisch erscheinen. 

Turm Mulegns

Hansmeyer zu Seite stand der Architekt Benjamin Dillenburger, der an der ETH Zürich eine Professur für digitale Bautechnologien innehat. Hier wurde ein Verfahren für die Herstellung der Säulen mit einem 3D-Drucker und unter Verwendung einer eigens hierfür kreierten Betonmischung entwickelt. Zwar wird der Turm als weltweit höchstes realisiertes 3D-Bauwerk präsentiert, doch genau betrachtet handelt es sich um einen Hybriden. Sockel und Zwischenböden bestehen aus gegossenem Beton mit Armierungseisen. Einzig die insgesamt 32 Säulenbündel, die in der Form und in der Höhe variieren, sowie die acht Verstrebungen mit abschliessendem Kranz wurden in den ETH-Labors «gedruckt». Ein Roboter mit einer Düse legte aufgrund der Daten der ausschliesslich am Computer entworfenen Vorlagen insgesamt 2400 Schichten aufeinander. Ein zweiter Roboter setzte ringförmige Stahlbewehrungen ein. Es wurde dabei darauf geachtet, dass jedes Element mit einem anderen Muster versehen wurde. Bei Nahsicht stellt man Unregelmässigkeiten und teilweise sogar unsaubere Fugen fest, als ob ein wenig geübter Handwerker gearbeitet hätte. 

Die Konstruktion ruht auf den Fundamenten einer denkmalgeschützten Ruine aus Bruchsteinen. Es ergibt sich nicht nur ein Dialog von Alt und Neu, sondern auch ein interessanter Kontrast zwischen den groben Mauern, dem aalglatten Sockel und den schneeweissen gerillten Säulen. In der Nacht kann der Turm mit einem ausgeklügelten Lichtkonzept wirkungsvoll beleuchtet werden. In diesem Sommer gehört ein hölzernes Kastell gleich davor zum Ensemble. Dieses dient als Bühne für ein von Giovanni Netzer höchstpersönlich verfasstes Theaterstück, in dem das Leben der Zuckerbäcker als Familiendrama ausgebreitet ist. Dabei wird der Turm in das Spiel miteinbezogen, insbesondere die oberste Plattform, die über eine Wendeltreppe aus Metall erreichbar ist und Platz für 36 Personen anbietet.

Turm Mulegns Säulen

Architektonisch betrachtet, kann das Werk als etwas Singuläres gewertet werden. Es könnte als Folly durchgehen, als ein zweckfreies Etwas, das alleine durch seine Form Interesse weckt. Nebst den immer wieder als Vorbilder zitierten Produkte der Zuckerbäcker könnte man auch auf die verspielten Kirchtürme gerade der Nachbardörfer als Inspirationen verweisen. Besonders der Turm von Tinizong, aber auch die etwas einfachere Variante der Kirche von Mulegns könnten in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Aus einer gewissen Distanz betrachtet, erscheint der am Südrand des Dorfes stehende Weisse Turm als eine moderne Variante des Kirchturmes am Nordrand zu fungieren. Lenken wir den Blick über den Bereich unserer Kultur hinaus, dann könnte man auch an die islamische Architektur mit ihrer Vorliebe für komplexe Dekorationen denken.

Das Werk soll in fünf Jahren wieder abgebaut werden, was im Grunde zu bedauern ist. Es könnte für das Dorf zu einem ähnlichen Wahrzeichen werden wie der Eiffelturm von Paris, der als temporär gedachtes Monument die Weltausstellung von 1878 überdauerte (eine Parallele, die schon Bundesrat Parmelin bei der Eröffnung zitiert haben soll). Allerdings müsste der kleine Bruder in Mulegns die Aura des Nicht-mehr-Wegzudenkenden erlangen, und diesbezüglich müssten einige Hindernisse weggeräumt werden. 

Ob die Einheimischen – nun, viele sind es in der Tat nicht mehr – vorbehaltlos hinter dem Werk stehen, ist ungewiss. Der Schreibende erlebte eine harsche Reaktion einer Bewohnerin, als er einen Weg beschritt, der offenbar nicht begangen werden sollte, als Privatweg jedoch nicht markiert war. Und ein Turm, dessen Begehung ein Luxus ist – Führungen mit Besteigung finden lediglich zweimal täglich statt, und hierfür muss man den exorbitanten Betrag von 50 Franken ausgeben und dies pro Person – dürfte unter diesen Umständen kaum als heimisches Kulturgut angeeignet werden.

Für weitere Informationen siehe www.origen.ch

Fotos © Fabrizio Brentini

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