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Kommentar 21

Zivil und unbeugsam

30. Juni 2025
Urs Meier
Budapest Pride
Budapester Prominenz an der Spitze der Pride-Parade vom 28. Juni 2025, die von Viktor Orbán zuvor verboten worden war (Keystone/EPA, Zoltan Balogh)

Ohne Machtmittel, dafür aber mit grossem persönlichem Einsatz kämpfen zivilgesellschaftliche Bewegungen für die Überwindung von Diskriminierung und Machtmissbrauch. Ein starkes Zeichen hat die Pride trotz Verbot in der ungarischen Hauptstadt gesetzt.

In Budapest haben am Samstag bis zu 200’000 Personen – so die Schätzung der Veranstalter – an der Pride-Parade teilgenommen, obschon Machthaber Viktor Orbán sie verboten hatte. Wer teilnahm, ging ein Risiko ein, einerseits wegen der Gefahr von Gewalt durch eine Gegendemonstration von extremen Rechten, andererseits wegen Strafandrohungen gegen die Teilnehmer. Zu Gewalttätigkeiten kam es nicht, unter anderem dank guter Polizeitaktik. Ob es zu Prozessen wegen Missachtung des Demonstrationsverbots kommt, ist noch ungewiss. Den Organisatoren der Pride drohen angeblich Haftstrafen bis zu einem Jahr und den Teilnehmenden, die von gesichtserkennenden Kameras überwacht wurden, empfindliche Geldstrafen.

Beobachter sind sich einig, dass Orbán sich mit seinem Verbot verkalkuliert hat. Er glaubte, die Regenbogen-Bewegung einschüchtern und ihren Anlass wenn nicht verhindern, so doch zur Bedeutungslosigkeit dezimieren zu können. Stattdessen wurde die Pride 2025 zur grössten, die je in Ungarn stattgefunden hat. Sie hat damit ein wichtiges Ziel erreicht: Sichtbarkeit. Repressive Gesellschaften und autoritäre Politiken, so unterschiedliche Ideologien ihnen auch zugrunde liegen mögen, haben eines gemeinsam: Sie drängen Abweichungen von sexueller Norm in die soziale Unsichtbarkeit ab, weil sie einen normierten Menschen benötigen, um ihr Regime stabil zu halten. Das ist wie in vielen anderen Städten der Welt am Samstag nun auch in Budapest gründlich misslungen.

Orbán hat die Macht mit einem smarten Autoritarismus erobert und abgesichert. Seine Mittel sind das Wahlrechts-Design, der unterwanderte Medienmarkt, die Gängelung von Kultur und Bildung, das dichte Netz von Klientelwirtschaft und Korruption sowie das eingängige Narrativ, das gegen die EU der «liberalen Eliten» und für das «christliche Ungarn» agitiert. Dadurch hat er Politik, Wirtschaft und Gesellschaft fast durchwegs auf Linie gebracht, ohne zu harter Gewalt greifen zu müssen. Orbán wirft Oppositionelle nicht ins Gefängnis, seine Polizei prügelt nicht auf Demonstrierende ein. Oberflächlich betrachtet ist das Land ruhig. Die Unterdrückung ist eher unauffällig – und dadurch umso effizienter.

Die Pride mit ihrer vitalen Botschaft der Freiheit und Selbstbestimmung hat das «System Orbán» blossgestellt. Mit der Regenbogen-Parade von Budapest ist ein starkes Zeichen gesetzt worden. Es beweist die ungebrochene Existenz dessen, was seit gut dreissig Jahren unter dem Begriff Zivilgesellschaft verstanden und breit diskutiert wird. Die fünfzehn Jahre von Orbáns zunehmend autokratischer Regentschaft haben in Ungarn die zivilgesellschaftliche Resilienz nicht ersticken können.

Mit dem Zivilen oder Zivilgesellschaftlichen wird neben dem Politischen und dem Wirtschaftlichen diejenige Sphäre der Gesellschaft bezeichnet, in der die Selbstwirksamkeit der Bürgerinnen und Bürger ihren Ort hat. Von Max Frisch stammt der vielzitierte Satz: «Demokratie heisst, sich in seine eigenen Angelegenheiten einzumischen.» Er beschreibt die Haltung des Citoyens und der Citoyenne, die in aufgeklärter Art nicht Eigeninteressen, sondern das emanzipatorische allgemeine Interesse zu ihrer ganz eigenen Sache machen.

Zivilgesellschaftliches Engagement hat immer das Ganze der Gesellschaft im Auge, auch wenn es im konkreten Fall auf einzelne Ziele oder bestimmte Missstände gerichtet ist. Zivil ist es auch in dem Sinn, dass es in zivilisierter Form geschieht: ohne Gewalt, ohne Diffamierung und bei aller Entschiedenheit gesprächsbereit und fähig zu konstruktivem Umgang mit Widerständen und Gegenpositionen.

Die Budapester Pride blieb am Samstag nicht allein mit ihrem zivilgesellschaftlichen Protest. Gleichzeitig demonstrierten in Belgrad Zehntausende gegen den serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, einen mit Viktor Orbán Verwandten im Geiste. Seit vergangenem November reisst die von Studierenden getragene Protestbewegung gegen staatliche Korruption und Schlamperei nicht ab. Und auch in Tel Aviv fand – nachdem während des Irankriegs öffentliche Versammlungen verboten gewesen waren – die samstägliche Demonstration für ein Ende des Gazakriegs und die Freilasssung der von Hamas seit dem 7. Oktober 2023 festgehaltenen Geiseln wieder statt.

Auch in den vom Trumpismus gespaltenen und brutal umgepflügten USA zeigen sich allmählich wieder stärker die für das Land eigentlich so typischen zivilgesellschaftlichen Regungen: In Kalifornien und anderswo stossen Trumps Deportationen auf Widerstand, und in vielen Städten haben «No Kings»-Manifestationen gegen den aufkommenden Autoritarismus mobil gemacht.

Ungarn, Serbien, Israel, USA: Die Problemlagen lassen sich nicht vergleichen, wohl aber die zivilgesellschaftlichen Bewegungen, die gegen sie in Gang gekommen sind. Sie können in ihren Ländern einstweilen nicht viel ausrichten. Aber sie bleiben beharrlich und unbeugsam.

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