Was für ein Mensch! Russland droht ihm mit dem Tod. Er schläft kaum noch. Er kämpft wie ein Löwe. Die psychische Belastung, die der ukrainische Präsident seit fast drei Jahren, Tag für Tag erlebt, scheint fast unerträglich. Seine Frau und seine Kinder sieht er fast nie. Kaum ein anderer Politiker stand je unter einem derartigen Dauerstress.
Als Symbol des Widerstandes muss Wolodymyr Selenskyj Stärke zeigen. Jeden Tag spricht er via Video zum ukrainischen Volk und macht ihm Mut. Doch der russische Präsident macht klipp und klar deutlich, dass ein Frieden nur nach seinen Bedingungen zustande kommt. Das heisst: Die Ukraine würde 20 Prozent ihres Territoriums verlieren.
Dagegen wehrt sich Selenskyj mit Händen und Füssen. «Irgendwann fällt er einem Attentat zum Opfer und geht als Märtyrer in die Geschichte ein», schreibt eine ukrainische Bloggerin.
Er gibt nicht auf, er reist zu Staats- und Regierungschefs, er bettelt um Waffen, um mehr Waffen. Er geht durch dick und dünn, um sein Land in seinen verbrieften Grenzen zu retten.
Müde Augen ja, einige Augenringe ja …
Vielleicht ist es gerade die Hoffnungslosigkeit, die ihn täglich noch zäher macht. Noch wirkt er nicht wie ein geschlagener Mann. Wer Fotos vor Beginn des Krieges mit heute vergleicht, ist erstaunt: Selenskyj wirkt nach wie vor frisch und kampfbereit. Müde Augen ja, auch einige Augenringe und Furchen im Gesicht ja, aber energiegeladen.
Täglich muss er zusehen, wie der Kriegsverbrecher Putin sein Land verwüstet. Bombardierte Städte, bombardierte Spitäler, Kindergärten und Theater. Putin schert sich einen Deut um die Genfer Konventionen, die Angriffe auf zivile Ziele verbieten.
Und täglich erhält Selenskyj Meldung, dass wieder hunderte seiner Soldaten gestorben sind. Nach seinen Angaben sind es bisher fast 50’000. Fast 400’000 weitere wurden verwundet. Andere Quellen sprechen von bis zu 100’000 toten ukrainischen Soldaten. Ist er verantwortlich für diese Verluste? Solche Zahlen kann man nicht wegstecken. Schuldgefühle plagen ihn.
Wer hält das aus?
Und dann das ständige Wechselbad zwischen leiser Hoffnung und Verzweiflung. Vom amerikanischen Präsidenten wird er im Oval Office vor laufenden Kamers aufs Übelste vorgeführt und dann aus dem Weissen Haus geworfen. Wer hält das aus! Wie erträgt das ein Mensch, ein Politiker? Dann im Sommer wieder etwas Hoffnung. Tump spricht, ausgerechnet im Petersdom in Rom, eine Viertelstunde lang mit Selenskyj. «Konstruktives, nettes Gespräch.» Auf und ab, es ist nicht auszuhalten.
Und die Europäer! Immerhin haben sie verstanden, dass es nicht nur um die Ukraine geht. Nato-Chef Rutte warnt vor zunehmenden Sicherheitsrisiken, sollte die Hilfe für Kiew nachlassen. Putin zündelt bereits auf Nato-Gebiet. Drohnen fliegen über Polen und die baltischen Staaten. Schon überquerten drei russische Grenzschutzbeamte für kurze Zeit demonstrativ die estnische Grenze. Im lettischen Riga hat man panische Angst.
Er kämpft nicht nur gegen den Kriegsverbrecher Putin, er kämpft auch gegen den offensichtlich psychisch kranken amerikanischen Präsidenten.
Da fahren westeuropäische Präsidenten im Nachtzug nach Kiew und bekunden Selenskyj ihre volle Solidarität. Auch in Brüssel wird er mit offenen Armen empfangen. Doch der ukrainische Präsident braucht mehr als Solidaritätskundgebungen: Er braucht vor allem Waffen. Putin versteht nur eine Sprache: die Sprache der Gewalt.
Palaver um die Entsendung einiger Panzer
Doch während die Russen langsam (und mühsam) vordringen, palavern die Europäer um die Entsendung einiger Panzer und Abwehrsysteme. Und auch die Schweiz verheddert sich wieder einmal in der Diskussion über die schon längst nicht mehr existierende Neutralität und spielt damit Putin in die Hände.
Der einzige, der von Anfang an begriffen hatte, dass es um Waffen geht, war Joe Biden. Er lieferte der Ukraine Waffen, Munition, Luftabwehrsysteme, Artillerie und Panzerabwehrraketen im Wert von 65 Milliarden Dollar. 65 Milliarden Dollar! Biden wird jetzt vom amerikanischen Präsidenten lächerlich gemacht und als Initiator allen Übels dargestellt. Wie freute sich Putin, als Trump gewählt wurde. Er wusste gleich: Jetzt hat er den Ukraine-Krieg gewonnen.
Wolodymyr Selenskyj kämpft nicht nur gegen den Kriegsverbrecher Putin, er kämpft auch gegen den offensichtlich psychisch kranken amerikanischen Präsidenten.
Erstes Kriegsziel: Die Ermordung Selenskyjs
Schon von Anfang an zeigte Selenskyj Mut. Er war ein gefeierter Fernsehstar in der Ukraine und in Russland. Populär wurde er als Schauspieler, Regisseur, Fernsehmoderator und Filmproduzent. Auch Putin lachte über seine komischen Auftritte. Dann, 2014, annektierte der Kreml-Chef die ukrainische Krim. Selenskyj protestierte und wurde in Russland zur Persona non grata.
Acht Jahre später liess Putin an der Grenze zur Ukraine Zehntausende Soldaten stationieren und führte Militärmanöver durch – und er log das Blaue vom Himmel. Nein, ein Angriff auf die Ukraine werde es nicht geben. Auch Selenskyj klammerte sich bis zum Schluss an dieser Hoffnung fest. Dann am 24. Februar 2022 gab Putin in einer nächtlichen Fernsehansprache seine Entscheidung bekannt, eine sogenannte militärische Sonderoperation in der Ukraine zu beginnen.
Erstes Kriegsziel war die Eroberung der Hauptstadt Kiew und die Ermordung von Selenskyj. Dieser sagte später, Russland habe ihn zum «Ziel Nummer eins» und seine Familie zum «Ziel Nummer zwei» bestimmt. Westliche Geheimdienste bestätigten dies. Absicht der Russen sei es gewesen, sofort eine Kreml-freundliche Regierung einzusetzen.
Zehn Attentaten knapp entgangen
Söldner der Wagner-Gruppe waren laut amerikanischen und britischen Geheimdienstinformationen damit beauftragt, Selenskyj aufzuspüren und zu ermorden. Allein in der ersten Kriegswoche sollen drei Attentate auf den ukrainischen Präsidenten im letzten Moment verhindert worden sein. Einmal soll sich Selenskyj in einem Büro mit Möbeln verbarrikadiert haben, als russische Häscher sehr nahe waren.
Laut ukrainischen Bloggern soll Selenskyj mindestens zehn Mal knapp Attentatsversuchen entgangen sein. Inzwischen schläft er, so einige Blogger, fast jede Nacht an einem anderen Ort – so, wie damals Fidel Castro, als er ins Visier des CIA geraten war.
Familienleben gibt es bei den Selenskyjs nicht mehr. Seine Frau, «das Ziel Nummer zwei», die 1978 geborene Olena Selenska, reist kreuz und quer durch die Ukraine und betreut mutig soziale Einrichtungen und hilft in Spitälern. Über den Aufenthaltsort der beiden Kinder, der 2004 geborenen Tochter und dem 2013 geborenen Sohn, ist nichts bekannt. Möglicherweise wurden sie ausser Landes gebracht.
Was er erlebt, erlebt wohl niemand
Mit seinen täglichen Video-Ansprachen demonstriert er, dass er sich trotz ernsthafter Drohungen in Kiew aufhält. Ab und zu besucht er – zum Schrecken seiner Sicherheitsleute – die Front. Und während er für sein Land kämpft, muss er immer von Rückschlägen berichten. Und er muss anerkennen, dass die gigantische anfängliche Solidarität des Westens immer mehr bröckelt. Der Westen hat genug von diesem Ukraine-Krieg. Schwere russische Angriffe sind vielen Zeitungen nur noch eine Kurzmeldung wert.
Doch es geht weiter. Wieder Bomben, wieder Drohnen, wieder sogenannte «Friedensgespräche», wieder «konstruktive Verhandlungen» – und wieder nichts. Wieder aufmunternde Worte aus Europa, wieder Hoffnungslosigkeit, wieder Angriffe auf Städte, wieder Flucht in die Bunker, wieder Stromausfall, wieder Kinder, die im Bombenhagel sterben. Und wieder stellt er einen «Friedensplan», diesmal einen, der 20 Punkte enthält. Eine Donbass-Sonderzone? Putin will mehr. Er wird den Plan abschmettern.
Viele Politiker stehen unter hohem Dauerstress, unter öffentlichem Druck. Viele befinden sich in ständigem Krisenmodus, haben kein Privatleben mehr, sind emotional exzessiv belastet, sind gesundheitlich angeschlagen. Doch was Selenskyj erlebt, erlebt wohl niemand.
Kampf des Hoffnungslosen?
Natürlich ist auch er kein Heiliger. Unklar ist, ob und wie weit er in die ukrainischen Korruptionsfälle verwickelt ist. Kritik gegen ihn gibt es auch innerhalb des Landes. Vitali Klitschko, der Bürgermeister von Kiew, spricht seit zwei Jahren nicht mit ihm. Dem Präsidenten wird ein zunehmend autoritärer Stil vorgeworfen.
Doch Selenskyj hält weiter die Fahne hoch. Leute, die ihn kennen, bezeichnen ihn als extrem belastbar und extrem diszipliniert. Doch wie lange hält er das durch? Immer verbissener kämpft er um sein Land. Und er kämpft gegen das Vergessen, gegen die Kriegsmüdigkeit im Westen, gegen die unzureichende Unterstützung – und gegen Präsident Trump, der bereit ist, einen Teil der freien Ukraine zu opfern, um sich selbst als Friedenspräsident in Szene zu setzen. Doch mit Gewalt erzwungener Frieden ist kein Frieden. Trump geht es nicht um die freie Ukraine, es geht nur um sein Ego.
Auch vor Weihnachten überzieht Putin die Ukraine mit einem Bombenhagel. Angriffe auf Wohnhäuser in Kiew, Angriffe auf Elektrizitätswerke. Der Strom fällt aus. Die Menschen frieren; sie werden aufgefordert, Weihnachten in Bunkern zu verbringen. Im Dunkeln, bei klirrender Kälte. So sieht Weihnachten 2025 nicht nur in Kiew und Odessa aus. Doch Selenskyj gibt nicht auf. Noch hat er die Hoffnung auf einen gerechten Frieden nicht ganz aufgegeben. Kämpft er den Kampf des Hoffnungslosen?
Wenn einer den Friedensnobelpreis verdiente, wäre es sicher nicht Trump, sondern Selenskyj. Doch sowohl er als auch der amerikanische Präsident werden der Ukraine wohl eher keinen gerechten Frieden bringen.