
Hat man sich bereits an das Phänomen Trump gewöhnt? Ist eine Art Normalisierung in der Wahrnehmung seiner Regierungstätigkeit eingetreten? Joe Biden hat kürzlich in einem Interview dagegengehalten. Er hat Recht: An Trumps Politik ist nichts «normal».
Joe Bidens empörter Ausruf beim Interview mit der BBC galt Trumps Ansprüchen auf den Panamakanal sowie auf Kanada und Grönland: «What the hell’s going on here?» Mit hörbarer Empörung fügte er an: «Welcher Präsident redet schon so? So sind wir nicht.»
Es droht ja bereits eine gewisse Gewöhnung an Trumps nicht abreissenden Output von Ungeheuerlichkeiten und Unverschämtheiten, zu dem inzwischen sein Hofstaat von Marco Rubio bis Karoline Leavitt kräftig beisteuert. Das Entsetzen ist allmählich so strapaziert, dass es sich abnutzt.
Zudem agiert ja diese Regierung inzwischen auf allen möglichen Feldern mit teils immer wieder anderen Zielrichtungen und Akzenten. Vor allem der Chef der Truppe ist dafür berüchtigt, manchmal im Stundentakt seine Meinung zu ändern, so dass man auf der Sachebene kaum noch mit dem Update der Nachrichtenlage und dem Justieren von Beurteilungen hinterherkommt. Dadurch verliert der generelle Stil- und Kulturwechsel, den das Weisse Haus mit grausamer Konsequenz exekutiert, in der öffentlichen Wahrnehmung allmählich an Gewicht.
Diesem fatalen Effekt der schleichenden Normalisierung muss gegengehalten werden. Was Trump und seine Truppe weltpolitisch und in der amerikanischen Gesellschaft anrichten, darf in unserer Wahrnehmung nicht «normal» werden.
Genau das betreiben aber Kommentatoren in Wissenschaft und Medien, die sich selbst als «Realisten» verstehen. Ihr Narrativ geht ungefähr so: Grosse Mächte wie die USA haben nun mal die Möglichkeit, ihre Interessen durchzusetzen, auch auf Kosten anderer Staaten. Sie verhalten sich rational, wenn sie davon Gebrauch machen. Es gibt keine Instanz, die befugt wäre, sie dafür zu kritisieren, weil es im Spiel der Mächte keine andere Norm gibt als eben diese Rationalität. Ebenso ist es politisch rational, wenn Trump innenpolitisch seine Weltsicht durchsetzt, weil er so seine Machtbasis stärkt.
Biden setzt diesem politischen «Realismus» etwas ganz Elementares entgegen, nämlich seine Haltung, die sagt: «So sind wir nicht.» Dabei hat selbstverständlich auch er als Präsident die Interessen der USA verfochten, und wie jeder Politiker war er darauf aus, seine Macht im Innern abzusichern. Was also gibt ihm das Recht, sich über Trump zu empören?
Es geht nicht um Biden versus Trump, auch im BBC-Interview von gestern Mittwoch nicht. Der Punkt ist vielmehr, die Grenzen wahrzunehmen, die Trump ganz offen nicht mehr respektiert. Zweimal hat er in einer Präsidentschaftswahl vorweg dekretiert, er werde das Resultat nur anerkennen, wenn er gewinne – und damit dem wichtigsten demokratischen Grundsatz überhaupt eine rüde Absage erteilt. Die politische Kultur seines Landes hat er mit der rigorosen Spaltung in Freund und Feind schwer, wenn nicht sogar irreparabel beschädigt. Den Institutionen der Demokratie begegnet er, so sie sich ihm nicht fügen, mit Hohn und Verachtung. Die Gewaltenteilung, insbesondere die Unabhängigkeit der Justiz, untergräbt er gezielt.
Mit offensiver Ausschaltung von Faktentreue und Wahrheit in der Kommunikation versucht er Widerstände gegen sein irrlichterndes Schalten und Walten zu beseitigen. Wenn er eine Verständigung mit Russland anstrebt, um für den Kampf mit dem Hauptgegner China Kräfte freizubekommen, dann hat halt die Ukraine Russland angegriffen. Und wenn er auf die Idee verfällt, der amerikanischen Industrie mit Zollmauern Schutz zu gewähren, dann behauptet er eben, Amerika sei von den Europäern durch ihre Handelsüberschüsse jahrelang «geplündert, gebrandschatzt, vergewaltigt und ausgeraubt» worden. Dies stützt er auf eine ökonomische Betrachtungsweise, die ausgerechnet die Hauptstärke der USA im internationalen Handel, nämlich die Dienstleistungen, überhaupt nicht berücksichtigt.
Nun ist es sicherlich so, dass Trump nicht der erste und einzige Politiker ist, der es mit der Wahrheit nicht immer genau nimmt. Doch Ausmass und Insistenz der Fälschungen gehen bei ihm so weit, dass er die Dinge einfach umkehrt: Seine Social-Media-Lügenschleuder nennt er «Truth» und die gesamten renommierten Qualitätsmedien denunziert er als «Fake News».
Die Lächerlichkeit vieler seiner Selbstinszenierungen, die grotesken Huldigungen, die er von seinen Ministerinnen und Ministern in der Kabinettsrunde entgegenzunehmen pflegt, die aufgedonnerten Erscheinungen seiner «White House Barbies» und vieles mehr könnten dazu verleiten, Trump und seine Entourage nicht ernst zu nehmen. Das wäre gefährlich, denn obschon er sich als angeblich «stabiles Genie» vermutlich überschätzt und wahrscheinlich oft den Überblick über den Stand seiner Auslassungen verliert, ist er doch der mächtigste Mann der Welt. Und wenn man die Macht einmal hat, kann man sie zumindest eine gewisse Zeitlang auch ohne grosse Intelligenz ausüben.
Eine im vollen Wortsinn realistische Sicht auf Trump und seine Politik blendet diese prekären Seiten nicht aus. Sie rechnet mit seiner Eitelkeit und Sprunghaftigkeit genauso wie mit seinem robusten Machtinstinkt und seiner abgebrühten Cleverness. Bidens beschwörendes «So sind wir nicht» macht nur deutlich, wie tief gespalten das Land mittlerweile ist.