Am 17. Oktober 2025 liess der Bundesrat in einer Medienmitteilung verlauten, er habe am 15. Oktober beschlossen, Einspruch gegen den Entscheid der Ukraine einzulegen, das Ottawa-Abkommen zu suspendieren. Das Ottawa-Abkommen verbietet den Einsatz, die Herstellung, die Lagerung und die Weitergabe von Personenminen. Damit soll das Leiden, Verstümmeln und Sterben «überwiegend unschuldige(r), wehrlose(r) Zivilpersonen und insbesondere Kinder(n)» (Ingress des Abkommens), vermieden werden.
Zur Begründung der Einsprache wird ausgeführt, das Ottawa-Abkommen sehe keine Suspendierung vor. Dies trifft zwar zu, doch ist eine Suspendierung eines Abkommens nach den Regeln des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge möglich. Und just auf das Wiener Übereinkommen stützt der Bundesrat offenbar seinen Einspruch, denn eine solche Möglichkeit sieht das Ottawa-Abkommen selber auch nicht vor. Ein Einspruchsrecht ist jedoch in Art. 65 des Wiener Übereinkommens vorgesehen.
Einspruch gegen eine ukrainische Verteidigungsmassnahme
Hier liegt eine erste Widersprüchlichkeit vor: Entweder gilt punkto Suspendierung das Ottawa Abkommen, das keine vorsieht, was der Bundesrat hervorhebt. Oder er stützt sich auf das Übereinkommen über das Recht der Verträge, das eine Suspendierung völkerrechtlicher Abkommen durch einen Vertragsstaat ebenso wie die Einspruchsmöglichkeit der andern Vertragsstaaten vorsieht. Seinen Einspruch kann er nur darauf stützen, nicht aber auf das Ottawa-Abkommen. Aber man kann nicht wahlweise argumentieren.
Nun ist offensichtlich, dass die Suspendierung des Personenminen-Abkommens durch die Ukraine in Anbetracht des russischen Aggressionskrieges in der Ukraine gegen weitere Vorstösse russischer Streitkräfte u. a. aus den bereits völkerrechtswidrig besetzten Donbas-Gebieten als Verteidigungsmassnahme zu sehen ist. Dabei geht es um den Kampf gegen Angehörige der russischen Armee, nicht um Zivilpersonen. Derweil bombardiert Russland aus der Luft zivile Wohnhäuser, Spitäler und Schulen, was das Töten, Verletzen und Verstümmeln Tausender unschuldiger Zivilpersonen einschliesslich Kindern zur Folge hat.
Russland ist nicht Vertragsstaat des Ottawa-Abkommens wie zahlreiche andere Staaten auch nicht, so u. a. China, Israel und die USA. Ratifiziert haben das Ottawa-Abkommen bloss 133 Staaten. Russland ist als Nachfolgestaat der Sowjetunion aber Unterzeichner der Uno-Charta, die der Putin-Staat seit über drei Jahren andauernd massiv verletzt und dabei serienweise Kriegsverbrechen begeht.
Warum keine Einsprache gegen andere Kündigungen?
Wegen der durch Russland, u. a. durch mannigfache Luftraumverletzungen, geschaffenen Bedrohung weiterer europäischer Staaten haben Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen das Ottawa-Abkommen bereits gekündigt. Die Wirkung dieser Kündigungen tritt ab 27. Dezember 2025, d. h. sechs Monate nach vorschriftsgemässer Einreichung des Rücktrittschreibens, in Kraft. Auch gegen Rücktritte aus einem Abkommen sind Einsprachen nach dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge möglich.
Bei diesen Rücktritten der erwähnten europäischen Staaten, alle an der Grenze zu Russland gelegen, hat der Bundesrat jedoch geschwiegen. Jedenfalls hat er nichts anderes verlauten lassen. Geschwiegen hat er auch zu den zweifelsfrei durch Israel begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza. Es scheint, der Bundesrat kapriziere sich auf die in diesem Zusammenhang spitzfindige Unterscheidung zwischen Suspendierung und Kündigung. Dabei geht eine Suspendierung weniger weit als eine Kündigung, sie gilt nur temporär.
Nachdem der Bundesrat bisher aus «Neutralitätsgründen» seit drei Jahren die Wiederausfuhr von in der Schweiz von anderen Staaten gekauften Kriegsmaterials an die Ukraine verboten hat und weiterhin verbietet, stellt sich die Frage erneut und verschärft, was der Bundesrat unter seiner Neutralitätspolitik versteht. Jedenfalls kann er sich im Zusammenhang mit dem Ottawa-Abkommen nicht auf die ohnehin obsoleten neutralitätsrechtlichen Regelungen in den Haager Abkommen berufen. Die Haager Abkommen befassen sich – nebenbei erwähnt – mit dem Land- und Seekrieg, nicht aber mit Luftkrieg, da es diesen damals noch nicht gab. Gemäss den Haager Abkommen V und XIII betonte der Bundesrat immer das sog. Gleichbehandlungsgebot. Das Gleichbehandlungsgebot ist indessen durch die Uno-Charta aufgehoben worden, da diese klar zwischen Aggressor- und Opferstaat unterscheidet.
Pseudomoralische Intervention de facto zugunsten Russlands
Der Opferstaat hat gemäss Charta «das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung» (Art. 51). Das der Charta widersprechende Gleichbehandlungsgebot hat der Bund, wenn er sich schon darauf beruft, mit dem Verbot der Wiederausfuhr u. a. von Fliegerabwehr-Munition an die Ukraine selber aber längst verletzt, indem er damit die Wirkung der russischen Luftangriffe mit Drohnen, Gleitbomben und Cruise Missiles verstärkt hat.
Weil Russland das Personenminen-Abkommen nie unterzeichnet hat, nimmt der Bundesrat mit diesem Einspruch demnach erneut eine Haltung gegen die Ukraine und im Effekt für Russland ein. Mit Neutralität hat diese Haltung nichts zu tun, auch nicht mit dem Bestreben, völkerrechtliche Vereinbarungen mit dem Einspruch durchsetzen zu wollen, sondern nur mit einer pseudomoralischen Intervention. Die aktuelle Neutralitätspolitik des Bunderates wird so um eine weitere widersprüchliche und unglaubwürdige Wendung zu Lasten der Ukraine und zugunsten Russlands ergänzt.