
Wegen eines angeblichen Bruchs der vielzitierten Brandmauer gegen die rechtsradikale AfD haben am vergangenen Wochenende in Deutschland Hunderttausende gegen die CDU/CSU protestiert. Die Empörungswelle erinnert teilweise an die Grossdemonstrationen während der Nachrüstungsdebatte vor 40 Jahren in Westdeutschland.
Warum es bei dem Aufruhr in den Medien und den anhaltenden Demonstrationen in vielen deutschen Städten genau geht, ist für Aussenstehende nicht so einfach zu erklären. Die oppositionelle CDU/CSU unter ihrem Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Friedrich Merz hatte im Bundestag in der vergangenen Woche zwei umstrittene Vorlagen zur Begrenzung der Migration eingebracht. Das Thema schlägt zurzeit in Deutschland hohe Wellen.
«Das Tor zur Hölle»
Es spielt daher im laufenden Wahlkampf zur Bundestagswahl vom 23. Februar eine prominente Rolle. Laut Meinungsumfragen ist eine Mehrheit der Bevölkerung der Meinung, dass vor allem die illegale Zuwanderung, also der Zustrom von Einwanderern aus Krisenländern ohne Genehmigung, sowie der Familiennachzug von Migranten eingedämmt werden sollte.
Im Bundestag lehnten die SPD und die Grünen, die nach dem Bruch der Ampelkoalition mit der FDP noch eine Minderheitsregierung bilden, die beiden umstrittenen Gesetzesvorlagen geschlossen ab. Die FDP verlangte eine Neubehandlung im zuständigen Parlamentsausschuss. Am Ende stimmte nur die CDU/CSU sowie die AfD den Vorlagen zu. Der zweite Text mit dem sperrigen Titel «Zustrombegrenzungsgesetz» erhielt keine Mehrheit, weil auch einige Vertreter der Unionspartei ihm nicht zustimmten.
Die Tatsache aber, dass Merz darauf bestand, die beiden Gesetze zur Abstimmung zu bringen, obwohl er wusste, dass ausser seiner Partei nur die AfD dafür votieren würde, löste weitherum in der Öffentlichkeit scharfe Kritik und Empörung aus. Es hagelte Vorwürfe von einem Tabu- und Brandmauerbruch gegenüber der AfD. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Mützenich behauptete gar, Merz werde mit seinem Entscheid, die Abstimmung im Bundestag trotz der sich abzeichnenden alleinigen Unterstützung durch die AfD durchzusetzen, «das Tor zur Hölle öffnen».
Auch wenn von dieser Hölle bisher noch nichts zu sehen ist, wurde und wird in vielen Städten gegen den angebliche Brandmauerbruch demonstriert. Kritische Kommentare überschlagen sich mit apokalyptischen Anspielungen auf eine vermeintliche drohende Wiederholung der fatalen Ereignisse von 1933, als Hitler mit Zustimmung der Zentrumspartei zum Reichskanzler ernannt wurde. Auf einem in den Medien verbreiteten Transparent wurde Merz als «Friedrich Hindenburg» apostrophiert – und damit mit dem damaligen Reichspräsidenten Hindenburg verglichen, der Hitler am 30. Januar 1933 zum Regierungschef ernannt hatte.
Erinnerung an die Nachrüstungsdebatte
Solche masslosen Übertreibungen und Untergangsbeschwörungen im Zusammenhang mit umstrittenen Abstimmungsentscheidungen im Parlament erinnern den Beobachter an die dramatischen Auseinandersetzungen von 1982/83 um den sogenannten Nachrüstungsbeschluss der Nato. Dieser war damals entscheidend von SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt angestossen worden. Es ging darum, in Mitteleuropa neue atomare Mittelstreckenraketen zu stationieren, falls die Sowjetunion ihre damals bereits aufgestellten Raketen gleichen Typs nicht abbauen sollte.
Weil ein grosser Teil der SPD ihren Kanzler in dieser umstrittenen Frage nicht mehr unterstützte und sich an den Massendemonstrationen gegen die angeblich friedensbedrohende Nachrüstung beteiligte, brach die Schmidt-Regierung schliesslich auseinander. Es kam zu Neuwahlen und CDU-Chef Helmut Kohl wurde langjähriger Bundeskanzler. Die umstrittenen Mittelstreckenraketen wurden später tatsächlich auf beiden Seiten Europas beseitigt, wie der Nato-Doppelbeschluss das angestrebt hatte.
Katastrophenbeschwörungen
In der Sache haben der damalige Streit um die Nato-Nachrüstung und die heutigen Kontroversen um eine Migrationseinschränkung zwar nichts miteinander zu tun. Doch auffallend ist dennoch, wie schnell und unbedacht vor allem von linker und grüner Seite damals wie heute mit hysterisch aufgeladenen Katastrophenszenarien agitiert wird.
Offenbar sind manche politische Aktivisten überzeugt, dass man mit derartigen Höllenbeschwörungen die öffentliche Meinung besser für die eigene Sache mobilisieren kann als mit differenzierten Sachargumenten. Die emotionalen Grossdemonstrationen damals zur Nachrüstungsfrage und jetzt zum Thema Brandmauer und Migration scheinen dieser Auffassung bis zu einem gewissen Grade recht zu geben.
Allerdings darf dabei nicht vergessen werden, dass optisch noch so imposante Strassenproteste nichts darüber aussagen, was die die Mehrheit der Bürger wirklich denkt. Darüber geben in funktionierenden Demokratien die Ergebnisse an den Wahlurnen sehr viel zuverlässiger Auskunft.
Wahlkampftaktik auf allen Seiten
Und dass es bei dem aktuellen Meinungsstreit um die vom CDU-Chef Merz eingebrachten Migrationsvorlagen und den Hickhack um die Abstimmungsergebnisse im Bundestag in Tat und Wahrheit nicht um das «Tor zur Hölle» geht, sondern um Wahlkampfkalkül im Hinblick auf die bevorstehende Bundestagswahl, darüber kann es bei nüchterner Betrachtung keine Zweifel geben. Merz will mit seinem umstrittenen Powerplay zur Abstimmung über die Migrationsgesetze den Wählern gegenüber demonstrieren, dass er gegen alle Widerstande unbedingt entschlossen ist, in Sachen Migration konkrete Eindämmungsmassnahmen durchzusetzen. Dafür nahm er es in Kauf, dass auch die AfD für diese Massnahmen stimmte – selbst wenn Merz sich zuvor von dieser Unterstützung ausdrücklich distanzierte.
Ob eine solche Abstimmungskonstellation auf ein Anbiedern an die AfD oder gar eine Zerstörung der vielzitierten Brandmauer gegen die AfD hinausläuft, darüber kann man lange streiten. Jedenfalls mutet es höchst fragwürdig an, wenn im deutschen Parlament nur noch Vorlagen von etablierten Parteien als moralisch koscher gelten sollten, die nicht von der Zustimmung der AfD abhängig sind. Damit würde dieser radikalen Partei de facto eine Art Veto-Recht über manche zukünftige Minderheitsanträge im Bundestag eingeräumt.
Ohnehin bleibt sehr undurchsichtig, wie dieses Brandmauer-Rezept geeignet sein soll, der AfD den Wind aus den Segeln der Wählergunst zu nehmen.
Welches Kalkül funktioniert besser?
Ebenso unzweifelhaft betreiben auch die Regierungsparteien SPD und Grüne mit ihrer unbedingten Ablehnung der von Merz eingebrachten Migrationsvorlagen eindeutige Wahlkampftaktik. Sie verweigerten ihnen primär nicht aus sachlichen Gründen die Zustimmung, wie die FAZ kommentierte. Vielmehr ging es ihnen in erster Linie darum, Merz und die CDU im Wahlkampf als angebliche Tabu- und Brandmauerbrecher und damit als Schrittmacher zum «Tor zur Hölle» einer herbeiphantasierten AfD-Machtergreifung anprangern zu können.
Wessen Kalkül besser funktioniert, wird man am 23. Februar präziser beurteilen können: Dasjenige des CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz, der sich im aufgewühlten Streit um die Migrationsfrage als unbeirrbarer Verfechter einer wirksamen Korrektur darstellt? Damit könnte Merz jenen Wählern eine willkommene Option bieten, die zwar eine effizientere Migrationskontrolle unterstützen, die AfD und ihre putinistisch durchtränkte Weltsicht aber entschieden ablehnen.
Oder könnte das Pendel am Wahltag doch noch zugunsten der SPD, ihrem Noch-Kanzler Olaf Scholz sowie ihrem grünen Koalitionspartner ausschwingen, die solche Korrekturen in Sachen Migration ablehnen, um sich stattdessen als unerschütterliche Brandmauer-Hüter zu inszenieren?
So oder so – Deutschland wird mit hoher Sicherheit auch nach dem Wahltag in gut zwei Wochen eine Demokratie bleiben. Und die überdrehte Höllen-Rhetorik dürfte dann wieder auf sachgerechtere Diskussionen zurückgeschraubt werden.