
«No Other Land», von zwei Palästinensern und Israelis gemeinsam realisiert, gewinnt in Hollywood den Oscar als bester Dokumentarfilm. Das Werk zeugt vom Leiden der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland, die der Gewalt der israelischen Besatzer ausgeliefert ist. Noch hat der Film in den USA keinen Verteiler gefunden – wohl aus politischen Gründen.
«Wir haben kein anderes Land, dafür leiden wir», sagt im Film eine ältere Frau, nachdem israelische Soldaten ihr Haus zerstört haben, weil es in einer Gegend im besetzten Westjordanland liegt, das die Verteidigungskräfte des Staates Israel (IDF) als Manövergelände für sich beanspruchen.
Israrelisch-palästinensische Film-Kooperation
Die Frau lebt in Masafer Yatta, einer hügeligen Gegend im Süden der Westbank, in der 20 palästinensische Dörfer liegen. Die Regierung in Jerusalem hat die Gegend 1980 zur «geschlossenen Zone» erklärt, obwohl Dokumente belegen, dass der Entscheid damals darauf abzielte, die einheimische Bevölkerung zu vertreiben, um Platz für illegale israelische Siedlungen zu schaffen.
Der 28-jährige Palästinenser Basel Adra hat zusammen mit seinem Kollegen Hamdan Ballal sowie den beiden israelischen Filmschaffenden Yuval Abraham und Rachel Szor den 95-minütigen Dokumentarfilm «No Other Land» realisiert, dessen Dreharbeiten 2019 begannen. Die Idee dazu entstand, nachdem Abraham als Journalist ins Westjordanland gekommen war, um über die aktuelle Lage zu berichten. Er und Szor trafen Adra und sie wurden erst Freunde, später auch Aktivisten.
«Basels Familie und seine Nachbarn hatten ein riesiges Archiv von Videos, die sie während 20 Jahren gefilmt hatten». erzählt Yuval Abraham: «Als Aktivisten verbrachten wir gemeinsam Zeit vor Ort, arbeiteten während fast fünf Jahren und filmten viel. Die IDF, so Abraham, hätten in dieser Zeit zwei Mal Basels Haus durchsucht und Computer und Kameras konfisziert: «So waren wir immer sehr, sehr gestresst.»
Hochaktueller Inhalt
Seit dem Ende der Dreharbeiten im Oktober 2023 hat sich nach dem Massaker der Hamas die Lage im Westjordanland erneut zugespitzt. Allein im vergangenen Jahr haben extremistische israelische Siedler 16 palästinensische Dörfer gesäubert. Die letzten Aufnahmen von «No Other Land» zeigen, wie sich eine Gruppe bewaffneter Siedler Masafer Yatta nähert.
Der Oscar-prämierte Dokumentarfilm könnte nicht aktueller sein, denn die IDF haben seit dem 21. Januar, dem Start der ersten Phase der Waffenruhe in Gaza, ihre Aktivitäten in der Westbank intensiviert – in einem Ausmass, wie es seit der zweiten Intifada in den frühen 2000er-Jahren nicht mehr der Fall war. Experten zufolge sind bisher 40’000 Palästinenserinnen und Palästinenser aus ihrem Zuhause vertrieben worden; laut dem israelischen Verteidigungsminister Israel Katz sollen sie nicht an ihre angestammten Orte zurückkehren dürfen.
Angeblich keine Vertreibungen
Israel zufolge dient die Militäroperation im Westjordanland der Bekämpfung militanter Palästinenser. Die IDF dementieren, Leute zu vertreiben; den Einwohnern sei lediglich befohlen worden, Gebäude zu verlassen, die sich in der Nähe von mutmasslichen Verstecken Militanter befinden. Auch sind im Februar in drei leeren Bussen in Tel Aviv Bomben explodiert. Der Polizei zufolge ähnelten die Bomben Sprengsätzen, wie sie Mitte der 1990er- und Anfang der frühen 2000er-Jahre im Westjordanland gebaut wurden und Israelis terrorisierten.
Die palästinensische Bevölkerung dagegen erinnert das Vorgehen der israelischen Armee an die Nakba von 1948: das Trauma der gewaltsamen Vertreibung und Flucht nach der Gründung des Staates Israel. Die Mehrzahl der jüngst Vertriebenen stammt aus Flüchtlingslagern, in denen heute Betroffene von damals und ihre Nachkommen leben.
«Am unerträglichsten waren der Terror und die Furcht», sagt der Israeli Yuval Abraham in einem Interview: «Du filmst Vorfälle, bei denen jederzeit jemand erschossen, exekutiert werden kann. Irgendein Siedler kann von einem Aussenposten herunterkommen, und wir zeigen das am Ende unseres Films: Der Siedler schiesst Basels Cousin aus nächster Nähe in den Magen, während ein Soldat zuschaut, und dann läuft der Siedler langsam – fast lässig – zu seinem Aussenposten zurück. Und diese Person ist immer noch frei.»
Der Palästinenser Basel Adra seinerseits erinnert sich an einen Augenblick, als er in der Nähe filmte und eine Gruppe von Soldaten auftauchte, um das Haus eines Nachbarn zu demolieren: «Ich versuchte das zu filmen and ich wurde geschleift und von wütenden Soldaten während einer halben Stunde oder länger geschlagen, und sie versuchten, mich in ihr Fahrzeug zu zerren. Ich hatte das Gefühl, sie taten das aus Rache, keine Verhaftung, kein Verhör, weil es selbst gemäss ihren rassistischen Gesetzen nichts gab, wofür sie mich hätten anklagen können.»
«Dafür müssen wir weiterkämpfen»
Für Basel Adra und Yuval Abraham war es zumindest anfänglich nicht immer leicht, den anderen zu verstehen oder ihm zu vertrauen. Doch sie hätten beide rasch gemerkt, dass sie ähnliche politische Werte teilten. «Natürlich gibt es immense Unterschiede», sagt Abraham: «Ich lebe unter Zivilrecht und Basel lebt unter Militärgesetz, was bedeutet, dass er auf einer schwarzen Liste steht. Er kann nicht nach Jerusalem kommen und mich dort besuchen, ich muss immer zu ihm gehen. (…) Es werden Gesetze gemacht, die er nicht beeinflussen kann. Er hat nie in seinem Leben gewählt und es ist ein krasser Unterschied: Im Grunde stimme ich für eine Regierung, die am Ende des Tages nicht nur Basels Leben kontrolliert, sondern es zerstört.»
Trotzdem lässt sich Basel Adra nicht entmutigen. Kraft geben ihm die Leute um ihn herum und unter ihnen besonders jene, die ihr Zuhause verloren haben, wie jener Mann, dessen Haus seit 2018 sechs Mal zerstört worden ist und welches er jedes Mal wieder aufgebaut hat: «Auch glaube ich fest, dass dieses Unrecht nicht ewig dauern kann. Welche Macht auch immer sich uns entgegenstellt und uns auf unmoralische Weise unterdrückt, am Ende des Tages kann sie nicht überdauern. (…) Dafür müssen wir weiterkämpfen.»
In den USA nur in unabhängigen Kinos zu sehen
In seiner Dankesrede in Hollywood hat der palästinensische Dokumentarfilmer kein Blatt vor den Mund genommen: «’No Other Land’ wiederspiegelt die Realität, die wir seit Jahrzehnten erdulden und der wir nach wie vor Widerstand leisten, während wir die Welt auffordern, ernsthaft etwas zu unternehmen, um die Ungerechtigkeit zu stoppen und die ethnische Säuberung des palästinensischen Volkes zu beenden.»
Yuval Abraham plädierte bei der Oscar-Verleihung für ein Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts und für eine Heimat für beide Völker: «Ich komme nicht umhin zu sagen, da ich hier bin, dass die Aussenpolitik dieses Landes eine mögliche Lösung blockiert. (…) Warum? Können Sie nicht sehen, dass wir verflochten sind? Dass mein Volk nur wirklich sicher sein kann, wenn Basels Volk wirklich frei und sicher ist? Es gibt aber einen Ausweg. Es ist nicht zu spät für das Leben und für die Lebenden.»
Schön, amerikanische Filmverteiler würden sich die Worte der beiden Filmschaffenden zu Herzen nehmen. Anders als im Ausland hat «No Other Land» zahlreichen internationalen Auszeichnungen und reger öffentlicher Nachfrage zum Trotz in den USA keinen Verleiher oder keine Streaming-Plattform gefunden, die es wagen, sich des unbequemen und von der deutschen Kulturministerin Claudia Roth bei der Berlinale 2024 als «erschreckend einseitig» kritisierten Werks anzunehmen. Der Film läuft in Amerika lediglich in unabhängigen Kinos, die sich vor dem Druck pro-israelischer Kreise nicht fürchten.
Diffamierung Israels?
Und «No Other Land» – laut NZZ «ein reisserischer Film selbsternannter propalästinensischer Aktivisten»? Noch ist nicht bekannt, ob der Film in Israel gezeigt werden wird. «Der Oscar-Gewinn für den Film ‘No Other Land’ ist ein trauriger Moment für die Welt des Kinos», sagt Jerusalems Kultur- und Sportminister Miki Zohar: «Anstatt die Komplexität der israelischen Realität darzustellen, haben sich die Filmemacher dafür entschieden, Erzählungen zu verstärken, die das Bild Israels gegenüber dem internationalen Publikum verzerren. Die Freiheit der Meinungsäusserung ist ein wichtiger Wert, aber die Diffamierung Israels zu einem Instrument der internationalen Werbung zu machen, ist keine Kunst – es ist Sabotage gegen den Staat Israel, insbesondere nach dem Massaker vom 7. Oktober und dem anhaltenden Krieg.»
Derweil sind dem palästinensischen Gesundheitsministerium zufolge im besetzten Westjordanland seit Anfang Jahr im Rahmen der Operation «Iron Wall» der IDF mindestens 70 Menschen, unter ihnen 10 Kinder, getötet worden. Hunderte mehr wurden verwundet und Tausende verhaftet. Im selben Zeitraum sind gemäss der Uno-Agentur für Palästinenserflüchtlinge (UNWRA) im Norden des Territoriums gegen 40’000 Menschen intern vertrieben worden.