
Während die Ukraine weiterhin unter dem mörderischen Angriffskrieg Russlands leidet, schwelt in diesem Land gleichzeitig ein Sprachenkonflikt um den Gebrauch der russischen und ukrainischen Sprache. Ideal wäre nach schweizerischem Muster ein friedliches Nebeneinander beider Sprachen. Doch Putins Kampf gegen eine unabhängige ukrainische Identität heizt tragischerweise auch die innenpolitische Konfrontation über den gängigen Sprachgebrauch an.
Valentina ist eine in Kiew wohnende Ukrainerin, die sich seit Beginn des russischen Überfalls vor drei Jahren als Leiterin einer NGO tatkräftig für die Verteidigung ihres Landes einsetzt. In dieser Funktion reist sie häufig in verschiedene westliche Länder, um Transportfahrzeuge und Hilfsmaterialien, die dort privat für die Ukraine organisiert werden, nach Hause zu bringen. Während eines Aufenthalts in der Schweiz berichtet sie, dass heute in ihrer Familie seit Ausbruch des Krieges grundsätzlich Ukrainisch gesprochen werde. Vor dem Krieg war das anders.
Eklat um einen russischsprachigen Literaturpreis
In ihrem Kreis – wie in den meisten Familien in Kiew und in den grossen Städten – war Russisch die allgemeine Umgangssprache. Valentinas Mann, ein Spezialist für kulturpolitische Fragen, weigert sich allerdings, das Ukrainische zu übernehmen, erzählte sie im Gespräch. Man kann sich vorstellen, dass das zu einigen Spannungen im familiären Umfeld führt, auch wenn Valentina darauf nicht näher eingeht.
Der innenpolitische Sprachenkonflikt hat sich in weiten Teilen der Ukraine in den letzten drei Jahren verschärft und verhärtet. Das demonstriert auch eine Kontroverse, die vor kurzem um die Verleihung eines Literaturpreises für russische Literatur aufgebrochen ist und einige Schlagzeilen gemacht hat. Der Literaturpreis «Dar» ist im vergangenen Jahr von dem in der Schweiz lebenden russischen Schriftsteller Michail Schischkin zusammen mit Slawisten in der Schweiz und andern im Exil lebenden russischen Autoren gegründet worden.
Der Preis soll insbesondere die Übersetzung und Verbreitung von russischsprachigen Werken finanzieren, die nicht vom Putin-Regime und seinem Zensursystem toleriert oder propagiert werden. Damit soll die Welt darauf aufmerksam gemacht werden, dass auch die russische Gegenwartskultur vielfältiger und vielstimmiger ist als diejenigen Werke, die vom Kreml und seinen Gefolgsleuten pauschal als russisches Nationalgut beansprucht werden.
Im Mai ist der Dar-Literaturpreis auf Grund einer Shortlist von einer Jury namhafter russischer Literaturspezialisten erstmals vergeben worden. Als Preisträgerin wurde die in Odessa lebende Schriftstellerin Maria Galina für ihr Russisch geschriebenes Buch «Nahe beim Krieg. Odessa Februar 2022 – Liutyi 2023» ausgezeichnet. Doch die Autorin, die lange in Russland gelebt und Mitglied des ukrainischen PEN-Clubs ist, hat die Entgegennahme des Preises abgelehnt. Sie begründete dies in einer wenig kohärenten Stellungnahme mit dem Argument, dass man die russische Sprachkultur in einer Zeit des aktuellen Angriffskrieges nicht fördern sollte, weil diese Sprache allzuoft als Instrument imperialer Unterdrückung eingesetzt worden sei.
Druck von Seiten ultranationalistische Kulturkämpfer
Gleichzeitig ist im Zusammenhang mit dem Dar-Literaturpreis auch Kritik an dem russischen Schriftsteller Denis Besnossow, der sich auf der Shortlist für den Preis befand, laut geworden. Ihm wirft die jetzt im ukrainischen Lwiw lebende russische Schriftstellerin Galyna Rymbu vor, Verbindungen zum «Genozid und zur Entführung ukrainischer Kindern» zu haben. Besnossow lebt seit dem Herbst 2023 im Exil in Armenien, war aber zuvor stellvertretender Direktor der Russischen Staatlichen Kinderbibliothek.
Diese schweren Vorwürfe werden allerdings nicht genauer belegt. Benossow mag eine amtliche Funktion im Kulturapparat des Putin-Regimes belegt haben, aber offenbar ist er mit diesem Regime seit längerer Zeit nicht mehr einverstanden, sonst würde er jetzt nicht im Exil leben. Auch die gewundene Ablehnung des Dar-Literaturpreises von Mariya Galina erweckt keinen überzeugenden Eindruck. Vielmehr drängt sich für Kenner der ukrainischen Kulturszene der Verdacht auf, dass diese Absage und die Vorwürfe gegenüber einem exilierten russischen Schriftsteller auf Einflüsse und Druck ultranationalistischer Kreise in der Ukraine zurückzuführen ist. Diese lehnen jede Verbindung mit russischsprachigen Institutionen oder die Förderung russischsprachiger Literatur rabiat ab und versuchen, solche Zusammenhänge aktiv zu torpedieren.
Dass ein solcher Kulturkampf in der Ukraine existiert, ist kein Geheimnis und angesichts des zerstörerischen Krieges von Putins Armeen gegen dieses Land auch nicht verwunderlich. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine von der damaligen Sowjetunion im Jahre 1991 ist ein Prozess eingeleitet worden, um das bisher dominierende russischsprachige Schulsystem auf die ukrainische Sprache umzustellen. Das ist zwar im Hinblick auf die anfänglich noch ungefestigte ukrainische Identitätsfindung begreiflich, hat aber vor allem im östlichen Teil des Landes, in dem der russische Sprachgebrauch fast durchgehend tief verankert ist, auch vermeidbare Friktionen provoziert.
Bulgakow und Gogol – kein ukrainisches Kulturerbe?
Im Alltag aber existierten die russische und die ukrainische Sprache, die ohnehin nah verwandt sind, weitgehend pragmatisch nebeneinander. In der grösseren Städten blieb das Russische bis vor dem Krieg die allgemeine Umgangssprache, auf dem Land dominierte das Ukrainische. Den meisten Ukrainern sind beide Sprachen geläufig. In manchen Gegenden des Landes wird ein buntes Gemisch aus beiden Sprachen gesprochen, das man Surschyk nennt.
Nun aber ist der Gebrauch des Russischen zumindest in der öffentlichen Sphäre weitgehend verpönt. Ukrainische Ultranationalisten, die vor dem russischen Überfall entgegen der Kreml-Propaganda kaum Einfluss in der Politik des Landes hatten (bei den letzten Parlamentswahlen nach Selenskyjs Wahl zum Präsidenten gewannen sie keinen einzigen Sitz) führen diese Kreise auch eine aggressive Kampagne nicht nur gegen den aktuellen russischen Sprachgebrauch, sondern auch gegen das kulturelle Erbe, mit dem die Ukraine auf vielfältige Weise mit der russischen Sprache verzahnt ist.
Ein Bekannter in Kiew, mit dem ich seit längerer Zeit korrespondiere und der seit Jahrzehnten auf die Erforschung der russischen Literatur spezialisiert ist, beklagt sich bitter über diesen Kulturkampf und seine oft engstirnigen Auswüchse. So sind in Kiew und in anderen Städten Denkmäler von Puschkin, der im russischen Literaturkosmos zu den grössten Namen zählt und dessen Werk mit Sicherheit auch in der Ukraine von unzähligen Lesern verehrt wird, schnöde gestürzt worden. Ein Museum im Geburtshaus des berühmten Schriftstellers Michail Bulgakow, der in Kiew geboren und aufgewachsen ist, aber seine Werke in russischer Sprache schrieb und später hauptsächlich in Moskau lebte, versuchen Hitzköpfe aus nationalistischer Verblendung hartnäckig zu schliessen. Ähnlich kontrovers ist inzwischen auch die Zugehörigkeit des grossen Schriftstellers Nikolai Gogol, der in der Ukraine aufwuchs und in seinem Werk viele Motive aus seiner ukrainischen Heimat aufgenommen hat, aber durchwegs in russischer Sprache schrieb.
Mit Putin keine Versöhnung möglich
Damit sollen die engen Verschränkungen zwischen dem ukrainischen und dem russischen Kulturerbe verdrängt oder gar verleugnet werden. Auch die russisch geschriebenen Bücher des bekannten zeitgenössischen Schriftstellers Andrei Kurkow, der in Kiew lebt und sich vehement gegen die Putin-Aggression engagiert, können inzwischen in der Ukraine nur noch in ukrainischer Übersetzung publiziert werden.
All diese kulturpolitischen Konfrontationen und Ausgrenzungen in einem Land, das seit mehr als drei Jahren von einem blutigen Angriffskrieg seines russischen Nachbarn überzogen wird und um seine Existenz kämpft, sind eine Tragödie. Sie provozieren unnötige innere Frontenbildungen und beeinträchtigen die nationale Geschlossenheit im Kampf gegen den Aggressor. Zwar hat Putin mit seinem Überfall das Bewusstsein und das Bekenntnis zur eigenen nationalen Identität und Sprache in der Ukraine fundamental vitalisiert und vertieft. Doch an der vernünftigen Einsicht, dass die ukrainische und die russische Sprache Teil und Bereicherung dieser nationalen Identität und ihres kulturellen Erbes sind, wird leider von Scharfmachern und Kleingeistern auf beiden Seiten der künstlichen Trennlinie gerüttelt.
Die Realität und Akzeptanz einer mehrsprachigen Ukraine wird erst zu einer Selbstverständlichkeit werden können, wenn dieses Land sich nicht mehr gegen eine drohende russische Einverleibung zur Wehr setzen muss. Solange ein skrupelloser Imperialist wie Putin im Nachbarland herrscht, wird eine gefestigte, harmonische Koexistenz zwischen der ukrainischen und der russischen Sprache und ihren entsprechenden Literaturen mit Sicherheit ein illusionärer Traum bleiben.