
Erwartungsgemäss war der russische Präsident nicht nach Istanbul gekommen. Selenskyj erklärte am Donnerstagabend, Russland meine es «nicht ernst» mit der Friedenssuche. Deshalb kündigte er an, nicht an den Gesprächen teilzunehmen und schickte seinen Verteidigungsminister nach Istanbul.
Selenskyj war am Mittag auf dem Esenboga-Flughafen in Ankara eingetroffen und wurde vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit militärischen Ehren empfangen.
In ukrainischen Kreisen heisst es, Putins Abwesenheit zeige, dass der Kreml-Herrscher gar kein Abkommen, keinen Waffenstillstand und keinen Frieden in der Ukraine wolle. Dass er nur eine niederrangige Delegation nach Istanbul geschickt hat, sei der Beweis dafür. Bemerkenswert ist, dass Russland nicht einmal seine beiden Spitzendiplomaten – Juri Uschakow und Sergej Lawrow – nach Istanbul entsandt hat. Das deutet laut ukrainischen Angaben darauf hin, dass der Kreml auf Zeit spielt. Putins Ziel sei nach wie vor die Zerstörung der Ukraine.
«Theaterrequisite»
Die russische Delegation wird von Wladimir Medinskij geleitet, einem engen Vertrauten Wladimir Putins, der die einzige vorherige Runde direkter Friedensgespräche mit der Ukraine im Jahr 2022 in Istanbul geleitet hatte. Medinski, ein ultrakonservativer ehemaliger russischer Kulturminister, hat keine Kompetenzen und gilt als diplomatisches Leichtgewicht.
Begleitet wird Medinskij vom stellvertretenden Verteidigungsminister Alexander Fomin. Auch der stellvertretende Aussenminister Michail Galuzin und Igor Kostjukow, der Leiter des russischen Militärgeheimdienstes, gehören der Delegation an.
Bei seiner Ankunft in Ankara bezeichnete Selenskyj die russische Delegation als «Theaterrequisite».
«Nichts wird passieren»
US-Präsident Donald Trump erklärte gegenüber Reportern, dass bei den Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine «nichts passieren wird», solange er sich nicht mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin trifft.
«Es wird nichts passieren, bis Putin und ich uns getroffen haben, ok? Und offensichtlich wollte er nicht hingehen. Er wollte gehen, aber er dachte, ich würde gehen. Er wäre nicht hingegangen, wenn ich nicht da gewesen wäre, und ich glaube nicht, dass irgendetwas passieren wird, ob es Ihnen gefällt oder nicht, bis er und ich zusammenkommen. Aber wir müssen das Problem lösen, denn es sterben zu viele Menschen», sagte Trump vor Reportern in der Air Force One, als er in Abu Dhabi (Vereinigte Arabische Emirate) landete.
Russische Sommeroffensive?
In ukrainischen Regierungskreisen fürchtet man, dass Putin auf Zeit spielt und eine Grossoffensive vorbereitet. In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat die russische Armee nach Angaben der Washingtoner Denkfabrik Atlantic Council 160‘000 Opfer zu beklagen. Menschenleben zählen für Putin nicht. Der ukrainische Analytiker Mykola Bielieskov rechnet damit, dass Putin jetzt alles an die Front werfen wird, und dass 2025 für die Russen «das verlustreichste Jahr des Krieges» sein wird.
In sozialen Medien in der Ukraine wird schon befürchtet, dass sich die russische Sommeroffensive nicht nur auf den Osten der Ukraine beschränken wird. «Wie würde der Westen regieren, wenn Putin erneut Kiew angreifen würde?», fragt ein Ukrainer und gibt die Antwort gleich selbst: «Scharfe Worte, weitere Sanktionen und sonst gar nichts.»
Auch Trump kommt nicht
Selenskyj hatte geahnt, dass Putin nicht kommen würde. «Ich glaube nicht recht daran, dass Putin persönlich zu einem solchen Treffen fähig ist. Mir scheint, er hat Angst», sagte der ukrainische Präsident am Dienstag in einem Interview mit dem Spiegel. «Wenn ich mich mit Putin treffe, dann muss das mit einem politischen Sieg enden – ein Waffenstillstand oder ein Gefangenenaustausch alle gegen alle», betont Selenskyj in dem Spiegel-Interview.
Donald Trump hatte zuerst erwogen, selbst nach Istanbul zu fliegen, doch dann schickte er seinen Aussenminister Marco Rubio in die Türkei. Dort nimmt er jetzt an einem informellen Treffen der Nato-Aussenminister in Antalya teil.
Putin war es, der am vergangenen Wochenende ukrainisch-russische Gespräche in Istanbul vorgeschlagen hatte. Dies, nachdem ihn westlliche Staats- und Regierungschefs zu einem Waffenstillstand aufgefordert hatten. Auf diese Aufforderung ging Putin mit keinem Wort ein.
Mit Putin keinen Frieden
Gegenüber Euronews sagt der Analytiker Mykola Bielieskov: «Wenn es gelingt, Russland den Sieg zu verwehren und Bedingungen wie den Verzicht auf Souveränität abzulehnen, wäre das bereits ein Erfolg. Wenn die Ukraine als souveräner Staat weiterbesteht, ist das ein klares Scheitern Putins. Er wollte sie zerstören: doch sie existiert, kontrolliert 80 Prozent des Landes, modernisiert sich und entwickelt Partnerschaften. Das allein ist schon ein Sieg.»
Bielieskov arbeitet seit 2019 am Nationalen Institut für Strategische Studien in Kiew und ist seit 2022 leitender Analyst für die ukrainische NGO «Come Back Alive».
Weiter erklärt Bielieskov gegenüber Euronews : «Solange Putin an der Macht ist, wird es kein tragfähiges Abkommen geben. Aber selbst ohne ihn bliebe das Problem. Russland ist durch jahrelange Propaganda radikalisiert. Viele glauben, sie führen einen Verteidigungskrieg auf Feindesland. Mit so einem Weltbild ist kein Kompromiss möglich. Deshalb braucht jeder künftige Weg militärische Stärke.»