Ihre Wurzeln liegen bei der konkret-konstruktiven Tradition. Doch Rita Ernst hat sich den Tendenzen, diese Kunstrichtung zu kanonisieren, entzogen. Heute schaut sie auf ein grosses Œuvre zurück und erschliesst sich unermüdlich neue Themen und Formen.
In seinem unvollendet gebliebenen Hauptwerk «Pensées» hat der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) mehrfach die Unterscheidung zweier Grundeinstellungen skizziert. Im esprit de géométrie wirkt das logisch-wissenschaftliche Denken, das auf allgemeinen Axiomen beruht und intersubjektiv überprüfbare Erkenntnisse hervorbringt. Doch diesem «geometrischen Geist» ist nicht die ganze Wirklichkeit zugänglich. Deshalb spricht Pascal ergänzend von esprit de finesse, einem «Geist des Feinsinns», dessen Domänen etwa Kunst, Religion oder menschliche Beziehungen seien.
Hat man Malerei und Künste in Pascals Systematik historisch stets auf der Seite des Feinsinns verortet, so erhielt anfangs des 20. Jahrhunderts mit der konstruktiv-konkreten Kunst die Geometrie plötzlich eine konstitutive ästhetische Funktion. Exakte Geraden, Drei- und Vierecke oder Kreise, ausgeführt in der Präzision technischer Zeichnungen mit monochrom-homogenen Farbflächen ergaben eine neue Bildsprache. Zwei Generationen nach dieser kunsthistorischen Innovation kamen bei den «Zürcher Konkreten» Elemente des Seriellen und der Kombinatorik hinzu. Bei Richard Paul Lohses Bildern etwa herrscht vielfach eine algorithmische Variation, die den konstruktiven Bildgedanken für die Betrachtenden nachvollziehbar offenlegt – Malerei des esprit de géométrie in Reinform.
Ausgangspunkt bei den Konkreten
In ihren künstlerischen Anfängen bewegte sich Rita Ernst (*1956) auf den Spuren der seriellen Bildkompositionen. In ihrem Zürcher Atelier zeigt sie mit verschmitztem Lächeln ein Bild, das sie als Kind gemalt hat, eine von regelmässigen Fensterfronten beherrschte Häuserlandschaft. Die Reminiszenz ersetzt ihr die fehlende Klarheit über die Gründe, weshalb sie bereits als junge Künstlerin nicht nur geometrisch gearbeitet, sondern ihre Bilder zudem mit regelmässigen vertikal-horizontalen Rastern strukturiert hat. Wo andere ihre Bildfindungen durch gestische Kohlezeichnungen vorantrieben, arbeitete Rita Ernst oft akribisch mit scharfen Bleistiften und Millimeterpapier.
Doch trotz der Bezüge zu den Konkreten (die sich so nannten, weil ihre konstruktiven Bilder eben gerade keine Abstraktionen von etwas Gegenständlichem waren, sondern aus «konkreten» Linien und Flächen bestanden): Rita Ernst ist nicht einfach als Nachfahrin dieser Gruppe zu sehen. Um das zu verdeutlichen, holt sie aus einem der vielen Regale eine Reihe von Mappen. Darin hat sie die Entstehung ihrer Grundriss-Bilder – eines davon ist hier ganz oben wiedergegeben – Schritt für Schritt dokumentiert.
Da ist zum Beispiel der grossformatige schwarzweisse Grundriss der Chiesa del Collegio mit den Mauern und Säulen sowie Tür- und Fensterlücken. Dieser Plan wird mit halbtransparentem Papier überdeckt, auf dem sie mit Farbstiften räumliche Zusammenhänge herstellt, die sich von der Gegenständlichkeit des Gebäudes sacht zu lösen beginnen. Auf der nächsten Schicht werden die farbigen Auszeichnungen zu Bildelementen, die teils im Gebäudeplan verankert bleiben, teils aber verschoben, rotiert oder serialisiert werden, kurz: sie emanzipieren sich, ohne mit ihrem Ursprung zu brechen. So entsteht am Ende das Bild, das nicht dem Dogma der Konkreten folgt, wie es etwa der streitbare Max Bill verfochten hat. Denn da bleibt als Ursprung und Anhaltspunkt die Chiesa del Collegio, auch wenn sie an der beschwingten Geometrie des resultierenden Gemäldes nicht mehr ablesbar ist.
Biographischer Einschnitt
Rita Ernst pendelt zwischen Zürich und Trapani auf Sizilien. Ursprünglich befand sich ihr italienisches Domizil nicht dort im Süden Italiens, sondern in Umbrien. Doch dann wurde bei dem schweren Erdbeben vom 26. September 1997 ihr dortiges Atelier vernichtet. Freunde luden sie nach Sizilien ein, wo sie, bevor sie dann in Trapani heimisch wurde, vorerst in einem Gartenhaus unterkam, um den Schock zu verarbeiten. Ihre Aufmerksamkeit habe fortan dem Boden gegolten, auf dem sie stand, erzählt sie. Von Bauten, deren Räume sie innerlich berührten, begann sie Grundrisse zu sammeln: normannische Kirchen und Kathedralen, islamisch und byzantinisch beeinflusste Burgen und Paläste. Die Planzeichnungen wurden zu Auslösern mehrerer Bildserien, später auch über die Villenarchitektur von Mies van der Rohe.
Ein anderer Ausgangspunkt von Rita Ernsts Bildfindungen waren die Graphen, mit denen Erdbebenwarten seismische Aktivitäten nach Stärke und Zeitablauf festhalten. Rita Ernst beschaffte sich die aufgezeichneten Amplituden der Erdstösse, die in Umbrien nebst 9000 weiteren Gebäuden auch ihr Atelier zerstört hatten. Diese Ausschläge transformierte sie in parallele vertikale Linien. Zusammen mit farbigen Balken und Würfeln bilden sie auf dem weissen Bildquadrat ein durchgeschütteltes Ensemble, dessen Rasterstruktur gerade noch knapp zu ahnen ist. «Ritmo B II», unmittelbar nach der Katastrophe entstanden, spiegelt einerseits die Zerstörung, überwindet diese aber zugleich durch sein elegantes, heiteres Spiel. Das Bild könnte (nicht zuletzt mit dem Titel) auch auf Jazz verweisen und sich so in die Reihe von Piet Mondrians berühmtem «Broadway Boogie Woogie» und anderen seiner explizit jazzigen Werke stellen.
Einbezug der Diagonalen
Wie wenig Rita Ernst geneigt ist, fremden oder selbstauferlegten Regeln sklavisch zu folgen, zeigt ihr freier Umgang mit dem Kompositionsprinzip des regelmässig-rechtwinkligen Rasters. Immer wieder hat sie eigensinnige Bilddiagonalen oder perspektivische Fluchten einbezogen, auch vereinzelt mit räumlichen Effekten (für die orthodoxen Zürcher Konkreten ein absolutes No-Go) experimentiert.
Mehr als bloss eine Abweichung von der Rechtwinkligkeit unternimmt die Künstlerin in der Serie «Vela» (Segel). Die farbenkräftigen, gross- und hochformatigen Bilder sind eine einzige Feier der dynamischen Schräge. Beginnend am linken Bildrand mit einer klaren Senkrechten, werden, je weiter es nach rechts geht, die Linien immer schräger und bilden mit ihren zahlreichen Überschneidungen zunehmend breitere, offenere Flächen. – Auch hier ging die Bildentwicklung offensichtlich von der Beobachtung, vielleicht einer Szene mit Segelbooten am Hafen von Trapani, zu einer von formalen Prinzipien geleiteten Komposition. Doch wie immer bei Rita Ernst kommt es nicht zu einem losgelösten Formalismus. Vielmehr entsteht ein Bild, das mit seinem Anlass in Berührung bleibt, das dessen Wesen und «Spirit» wiedergibt.
Durchbruch zum Blick in die Weite
In der Serie «Cielo sopra Trapani» von 2023 teilt die Dächersilhouette die kleinformatigen Bilder in zwei Farbfelder, das Blau des Himmels und die jeweils wechselnde Häuserfarbe. Die Dachlinie ergibt sich aus der jeweiligen Perspektive der dicht gebauten Stadtlandschaft und verzichtet auf alle Details. Was herauskommt, ist eine scheinbar willkürlich gezackte Linie, der man jedoch ansieht, dass sie durch die visuell zusammengeschobenen Fronten und Dächer zustande kommt. Die bestechende Bildidee verbindet das Moment der Anschauung und das Prinzip der freien, hoch formalisierten Bildfindung in einer Weise, die Rita Ernsts künstlerisches Credo frappant und witzig vor Augen führt.
Bei «Città», der jüngsten Serie, werden weitere Schritte in die gestalterische Freiheit sichtbar. Aus fotografierten Stadtansichten von Trapani gewinnt Rita Ernst mit dem gleichen Verfahren wie bei den Grundriss-Bildern Kompositionen aus – jetzt erstmals unregelmässigen – hier graublauen Vierecken sowie dunkelblauen und schwarzen Rundformen. Sie sind alle abgeleitet von Dach-, Fenster- und Zisternenformen, wie sie sich im Gewimmel der Stadtlandschaft von einem erhöhten und distanzierten Beobachtungsstandpunkt darbieten.
In der Durchsicht ihrer Arbeiten seit dem Einschnitt von 1997 gewinnt man den Eindruck, Rita Ernst sei sich des Bodens unter ihren Füssen wieder sicher. Sie richtet den Blick in die Weite, hat sich als Künstlerin neue Freiheiten erschlossen und den Radius ihrer Themen und Gegenstände erweitert. Anders als bei den Zürcher Konkreten, deren Bilder gewissermassen in einer zeit- und ortlosen Sphäre angesiedelt sind, haben Rita Ernsts Arbeiten – und das zeigt sich deutlich im grösseren Überblick – eine biographische Ortung.
Auf der einen Seite hallt die Strenge der konkret-konstruktiven Kunst in Rita Ernsts Arbeiten nach. Diesem Geist entspricht auch das rigorose Ethos, das ihre von Bild zu Bild, von Projekt zu Projekt stets äusserst anforderungsreiche Arbeitsweise überhaupt erst möglich macht. Da ist es nur folgerichtig, dass in ihrem Zürcher Atelier bei aller künstlerischen Légèreté eine methodische Aufgeräumtheit herrscht: Projekte sind in Büchern dokumentiert, in Schubern gesammelt. Wenn sie etwas zeigen und vergleichen will, findet Rita Ernst ihr Material mit einem Griff. Sie weiss stets auf Anhieb, in welchen Schubfächern ihre vielen hier gelagerten Bilder stehen. In Pascals Koordinatensystem wäre sie wohl klar beim esprit de géométrie angesiedelt.
Oder vielleicht doch nicht? Die biographischen Reflexe in Rita Ernsts Werk zeigen eine Dimension dieses Werks, wie sie bei den Œuvres der Zürcher Konkreten nicht zu finden ist. Ihre existenzielle Auseinandersetzung mit dem Ausgeliefertsein an eine Naturkatastrophe ist an den Arbeiten aus jener Zeit ablesbar. Und mit ihrem jüngsten Zyklus «Città» nähert sie sich der menschlichen Lebenswelt so weit an, wie es mit einer aus der konkreten Kunst entwickelten Bildgrammatik überhaupt möglich ist.
Rita Ernst steht damit genauso auch bei dem, was bei Pascal esprit de finesse hiess.