Die Verurteilung des früheren brasilianischen Rechtsaussen-Präsidenten ist auch eine Schmach für Donald Trump. Er hatte das höchste Gericht unter Druck gesetzt und einen Freispruch für seinen «guten Freund» gefordert. Doch die Richter liessen sich nicht weichklopfen. «Ich bin sehr unglücklich über dieses Urteil», sagte Trump. Wird er nun die Brasilianer und Brasilianerinnen aufwiegeln?
Die Parallelen zwischen Trump und Bolsonaro sind eklatant. Trump hatte 2020 die Wahlen knapp verloren. Am 6. Januar 2020 stürmten viele seiner aufgebrachten Anhänger das Kapitol in Washington. Dies wird heute als versuchter Staatsstreich des abgewählten Trump gewertet.
Zwei Jahre später, im Oktober 2022, hatte Jair Bolsonaro die Wahlen knapp verloren. Am 8. Januar 2023 stürmten Tausende seiner Anhänger den Regierungssitz in Brasilia und richteten schwere Verwüstungen an. Ziel war es, Bolsonaro wieder in das Präsidentenamt einzusetzen.
Doch da enden die Parallelen. Während Trump nicht vor Gericht gestellt und erneut Präsident wurde, hat das oberste brasilianische Gericht Bolsonaro nun zu 27 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
Demütigung für Trump
1889 war in Brasilien die Monarchie abgeschafft worden. Seither gab es 15 Staatsstreiche mit Beteiligung von Militärs. Doch nie waren die Putschisten verurteilt worden. Diesmal, zum ersten Mal, ist es anders.
Für Trump ist das eine Demütigung, eine Kränkung. Er hatte sich vehement für Bolsonaro eingesetzt und die sofortige Annullierung des Prozesses gefordert. Zudem hat er vier der fünf obersten Richter mit harten Sanktionen und das ganze Land mit 50 Prozent Zöllen bestraft. So glaubte er, das Gericht mürbe machen zu können.
Es nützte nichts. Die Richter liessen Trumps Drohungen kalt und verurteilten Bolsonaro. Trump hatte nicht damit gerechnet. In einer ersten Reaktion zum Urteil sagte er, er sei «sehr unglücklich darüber. Ich kenne Präsident Bolsonaro und mag ihn. Ich finde das schrecklich, wirklich schrecklich. Ich halte das tatsächlich für sehr schlecht für Brasilien». Sein Aussenminister Marco Rubio drohte bereits mit schweren Gegenmassnahmen. Washington werde auf «diese Hexenjagd (gegen Bolsonaro) entsprechend reagieren». Doch wie soll die Reaktion aussehen?
«Bewaffnete kriminelle Verschwörung»
Der Prozess gegen Bolsonaro wird als in jeder Hinsicht korrekt bezeichnet. Der 70-jährige Ex-Präsident wurde wegen eines versuchten Staatsstreichs und der Anführung einer «bewaffneten kriminellen Verschwörung» verurteilt. Vier der fünf Richter des Obersten brasilianischen Gerichts stimmten für die Verurteilung.
Der fünfte, Luiz Fux, kochte ein eigenes Süppchen und will sich offenbar auf eine politische Karriere mit rechtsgerichteter Unterstützung vorbereiten.
Richter Alexandre de Moraes, der den Prozess führte, nannte den Bolsonaro-Clan «eine politischen Gruppe, die nicht weiss, wie man eine Wahl verliert». Diese Leute seien nahe daran gewesen, in Brasilien erneut eine Diktatur einzuführen. Doch die Verschwörung und der Putsch scheiterten, weil einige hohe Militärs nicht mitmachten. Vor allem die Kommandanten der Armee und der Luftwaffen wollten sich nicht am Putsch beteiligen.
Der Hauptfeind
Die Richter betonten, es gebe genügend handfeste Beweise, dass Bolsonaro in das Komplott verwickelt sei. Dieses sah nicht nur einen Staatsstreich und die Ermordung des gewählten linken Präsidenten Ignacio Lula vor. Auch Lulas Vizepräsidenten und Richter Moraes sollten liquidiert werden.
Moraes leitete den Prozess gegen Bolsonaro und gilt als Hauptfeind des früheren Präsidenten. Die Putschpläne standen detailliert fest. Zunächst sollte der Ausnahmezustand ausgerufen, der Oberste Gerichtshof aufgelöst und dem Militär weitreichende Befugnisse übertragen werden. Anschliessend sollte das Wahlergebnis für ungültig erklärt und Bolsonaro erneut als Präsident eingesetzt werden.
Moraes ist es, der entscheidet, wo und wie Bolsonaro seine Strafe absitzt. Laut brasilianischen Medienberichten vom Samstag wäre nach einer sechsjährigen Haft ein offener Strafvollzug möglich.
60 Prozent Zölle? 70 Prozent?
Und jetzt? Brasilien wartet auf die Reaktion des gekränkten Trump. Sicher wird die Verurteilung den Konflikt zwischen den USA und Brasilien verschärfen. Doch was kann der amerikanische Präsident tun?
Bolsonaros Sohn, Eduardo, hatte sich in jüngster Zeit mehrmals in Mar-a-Lago aufgehalten und Trump mit falschen Informationen gegen die Richter aufgeputscht. Eduardo Bolsonaro sagte nach dem Urteil, er rechne mit weiteren Sanktionen gegen brasilianische Beamte. Laut brasilianischen Medien könnte Trump die Zölle von jetzt 50 Prozent auf 60 oder 70 Prozent erhöhen.
Lula da Silva lässt sich von Trump nicht beeindrucken. Während andere Staats- und Regierungschefs nach Washington krochen und versuchten, Trump gnädig zu stimmen, hat der brasilianische Präsident bisher nicht einmal Kontakt mit Washington aufgenommen, was Trump ärgert. Lula sagt, er lasse sich nicht demütigen.
Wie damals in Allendes Chile?
Trump hat Einfluss auf die brasilianische Gesellschaft. Er wird von einem grossen Teil der Bevölkerung als «Heilsbringer» betrachtet. Schon zirkulieren Verschwörungstheorien. Wird der amerikanische Präsident versuchen, die Bevölkerung aufzupeitschen und zu Protesten gegen die Regierung Lula und das Gericht auf die Strasse zu bringen – so, wie es der CIA Anfang der Siebzigerjahre in Chile gegen die Regierung Allende getan hatte?
Ähnlich wie in den USA ist Brasilien eine gespaltene Nation. Fast die Hälfte der Bevölkerung steht noch immer auf Bolsonaros Seite. An Demonstranten für den Ex-Präsidenten nahmen Hunderttausende Menschen teil. Werden sie jetzt rebellieren? Kommt es gar zum Bürgerkrieg? Laut Meinungsumfragen betrachten fast 40 Prozent der Bevölkerung den Prozess als ungerecht.
Beide, sowohl Trump als auch Bolsonaro, spielen sich als Märtyrer auf: als Opfer eines globalen Versuchs, konservative Stimmen zu knebeln. Wie Trump die Republikaner, so führte auch Bolsonaro das konservative brasilianische Wählerpotential in polarisierender Weise weit nach rechts. Er gewann die Unterstützung der Waffennarren, der Abtreibungsgegner, der LGBT-Hasser und der in Brasilien starken Evangelikalen. Sein zweiter Vorname lautet «Messias». Das sollte für ihn zum Programm werden. Jetzt hat diese sehr rechtsgerichtete, teils klar rechtsextreme Bewegung ihren Anführer verloren. Natürlich stehen andere bereit, so der Gouverneur von São Paulo, Tarcísio de Freitas. Doch er hat nicht das Charisma von Bolsonaro.
Keine Berufung möglich
Das jetzige Urteil kann nicht angefochten werden. Dafür müssten besondere Bedingungen erfüllt sein, die hier nicht gegeben sind. Es wird nun erwartet, dass die Anwälte versuchen, erleichterte Haftbedingungen für den Ex-Präsidenten zu erreichen. Bisher befand sich Bolsonaro mit einer elektronischen Fussfessel unter Hausarrest, und zwar weil offenbar Fluchtgefahr bestand. Auf seinem Mobiltelefon hatte die Polizei Angaben gefunden, dass er sich ins Argentinien des Javier Milei absetzen wollte, um sich eines Prozesses zu entziehen.
Bolsonaro war ein Späteinsteiger in die Politik. Der frühere Fallschirmjäger war dann von 1991 bis 2018 Kongressabgeordneter und fiel höchstens mit markigen Sprüchen auf. 2018 kandidierte er für das Präsidentenamt. Da er einen harten Kurs und einen unbarmherzigen Kampf gegen die grassierende Kriminalität versprach, stieg seine Popularität.
Einen Monat vor der ersten Runde der Präsidentenwahl 2018 wurde Bolsonaro von einem Geistekranken mit einem Messer angefallen. Der Präsidentschaftskandidat verlor 40 Prozent seines Blutes und leidet seither an ernsthaften gesundheitlichen Problemen. Aufgrund seines Gesundheitszustandes wird er seine Strafe vermutlich nicht im Gefängnis, sondern unter Hausarrest absitzen.
«Zu hässlich, um begattet zu werden»
Bolsonaro kann viel vorgeworfen werden. Entgegen besseren Wissens behauptete er – wie Trump – die Wahlen seien gefälscht worden. Am Wahltag hatte er die Polizei angewiesen, die Wähler und Wählerinnen in linken Gegenden daran zu hindern, wählen gehen zu können.
Von Wahlen hält er wenig. Immer wieder lobte er die Militärdiktaturen, die das Land von 1964 bis 1985 regierten. «Mit Wahlen erreicht man nichts», sagte er. Man komme nur voran, wenn man, die «Arbeit der Militärgeneräle vollendet und 30’000 Korrupte umbringt». Und wie Trump erklärte er während des Wahlkampfs: «Wenn ich verliere, dann liegt Wahlbetrug vor.»
Und immer wieder fiel er als primitiver Supermacho auf. Einmal sagte er zu einer Abgeordneten, sie sei zu hässlich, als dass sie verdiente, begattet zu werden.
Der Impfgegner, der seinen Impfausweis fälscht
Der Wahlkampf, den er schliesslich verlor, war einer der schmutzigsten in der lateinamerikanischen Geschichte. Bolsonaro vebreitete Hassbotschaften und Lügen. Und seine 27 Jahre jüngere Frau, eine erleuchtete evangelikale Laienpredigerin, mischte kräftig mit. Die Bolsonaros warfen dem Sozialdemokraten Lula vor, mit jungen Mädchen Orgien zu feiern. Kindern würden die Zähne ausgerissen, damit sei beim Oralsex die Männer nicht verletzten. «Wir müssen unsere Kinder aus den kommunistischen Klauen befreien», hiess es. Lula habe mit dem Teufel einen Pakt geschlossen und diesen mit seinem Blut unterschrieben. (siehe: Journal 21: Ein paar Worte zu den Bolsonaros).
In die Schlagzeilen geriet er auch wegen seiner Verharmlosung der Corona-Pandemie. Fast 700’000 Brasilianer und Brasilianerinnen starben. Er hatte das Virus als «Grippchen» bezeichnet und viele von einer Impfung ausgeschlossen.
Und da gibt es die Geschichte mit dem Impfausweis. Impfgegner Bolsonaro hatte erklärt, er lasse sich nicht impfen. Dann allerdings fälschte er, der Präsident Brasiliens, einen Impfausweis, damit er in die USA zu Trump einreisen konnte.
Wie Phönix aus der Asche?
Das Urteil wird jetzt als Sieg für die Demokratie, den Rechtsstaat und seine Institutionen gefeiert. Man spricht von einem historischen Ereignis. Doch ist das in Stein gemeisselt?
Der fünfte Richter, Fux, der sich als Einziger gegen die Verurteilung stellte, verlangt einen neuen Prozess. Das Verfahren hätte gar nicht vor dem Obersten Gericht stattfinden dürfen, sagt er, da Bolsonaro nicht mehr Präsident sei. Zur Zeit seines Putsches war er allerdings sehr wohl Präsident. Fox fordert einen neuen Prozess vor einem elfköpfigen Gericht. Doch dazu fehlen jetzt die juristischen Möglichkeiten. Ein Prozess vor dem Obersten Gericht kann nur angefochten werden, wenn mindestens zwei der fünf Richter gegen eine Verurteilung stimmen. Das ist in diesem Fall nicht der Fall. Nur einer, Fox, stimmte dagegen.
Fox argumentierte auch, der jetzige Präsident Lula da Silva sei wegen Korruption verurteilt worden, habe 17 Monate in Haft gesessen. Anschliessend seien ihm seine politischen Rechte wieder zuerkannt worden. Daraufhin habe er die Wahlen – gegen Bolsonaro – knapp gewonnen. Auf eine solche Wiederauferstehung hoffen nun auch Bolsonaro und seine Anwälte. «Er wird wie der Phönix aus der Asche steigen und wieder Präsident werden», heisst es in den sozialen Medien.
Begnadigung?
Doch der Vergleich mit Lula hinkt. Er war wegen eines sehr geringen Vergehens (es ging um den Kauf einer Wohnung) von einem sehr befangenen Richter verurteilt worden – und nicht wegen eines versuchten Staatsstreichs.
Bleibt die Politik. Wird der Kongress Bolsonaro amnestieren? Das ist nicht ausgeschlossen. Bereits arbeiten Abgeordnete am Projekt einer Amnestie. Einige hoffen gar, sie würden erreichen, dass Bolsonaro bei den nächstjährigen Präsidentschaftswahlen wieder kandidieren könne. Doch das Oberste Gericht würde wohl eine Begnadigung verfassungswidrig bezeichnen. Diesen Entscheid könnte der Kongress mit einer Zweidrittelmehrheit umstossen.
Das jetzige Urteil zeigt, dass die Demokratie in Brasilien robust ist, dass es noch unabhängige Richter gibt. Auch solche, die dem Präsidenten der Weltmacht Amerika trotzen.
Doch in Südamerika kann alles sehr schnell sehr anders sein. Sollte allerdings, wie und wann auch immer, das Urteil umgestossen oder verwässert werden, wäre das eine Einladung an alle autoritären Politiker, es mit der Souveränität der Rechtssprechung und der Demokratie nicht allzu ernst zu nehmen. Das wäre ein kapitaler Rückschlag, der sich wohl nicht nur auf Lateinamerika auswirken würde. Aber irgendwie würde das in die heutige Zeit passen …