Die Ampel-Koalition nimmt mit grossen Plänen die Regierungsarbeit auf. Im Bündnis gibt es einige Sollbruchstellen. Es verdient aber erst einmal die faire Chance, sich zu bewähren.
Markiert der 8. Dezember 2021 wirklich die in Kommentaren so oft beschworene Zeitenwende in Deutschland? Immerhin tritt mit Olaf Scholz ja nicht der erste, sondern bereits der vierte sozialdemokratische Bundeskanzler der Nachkriegszeit das Amt des Regierungschefs an. Aber dass sich mit der SPD, den Grünen und den Freien Demokraten drei Parteien zu einem Team zusammengerauft haben, die – in unterschiedlicher farblicher Schattierung – bislang nicht viel bis gar nichts miteinander am Hut hatten, das lässt eine spannende Zeit erwarten.
Mal was Neues wagen! Nach 16 Jahren unter dem politischen Dirigat von Angela Merkel ist ein Wechsel tatsächlich überfällig. Diese Feststellung reiht sich nicht ein in die Phalanx jener Kritiker, die der bisherigen Regierungschefin mangelnde Fähigkeit zu Visionen vorhalten oder fehlende Führungskraft in Europa vermissen. Als sie 2005 beim Rennen um die Kanzlerschaft den sozialdemokratischen Amtsinhaber Gerhard Schröder um eine Nasenlänge schlug, da hat sich Merkel ganz gewiss nicht vorgestellt, dass sie in den folgenden vier Legislaturperioden eine dramatische Krise nach der anderen würde meistern müssen.
Vom Bankencrash bis zur Corona-Pandemie
Angefangen mit dem (in den USA ausgelösten) weltweiten Bankencrash 2007. Gefolgt von den kostspieligen Aktionen zur Rettung der Gemeinschaftswährung Euro drei Jahre später. Danach die abenteuerliche innenpolitische Volte beim so genannten deutschen Atomausstieg. Und, nicht zu vergessen, das (teilweise) selbstverschuldete Problem mit den Hunderttausenden von Flüchtlingen und Migranten vor allem aus Nahost 2015.
Zum Schluss dann auch noch die Corona-Pandemie, bei der der Föderalismus in Deutschland mehr als nur einmal an seine Grenzen stiess. Das politische Geschehen ist alles andere als ein Zuckerschlecken. Die Fotografin Herlinde Koelbl hat Politiker zehn Jahre lang alle zwölf Monate porträtiert. Die sich häufenden Lebenslinien in deren Gesichtern sprechen Bände.
Tatsächlich war ein Wechsel in Deutschland überfällig. 16 Jahre Verantwortung für Staat und Gesellschaft gehen an die Substanz. Das gilt sowohl für die handelnden Personen als auch für die Inhalte. Kurzum: Die sich traditionell als «eigentliche» Regierungspartei empfindende Union war leer und ausgebrannt. Dass dieser Zustand vielfach lange nicht bemerkt wurde, hatte in erster Linie mit der bis zuletzt dominanten Persönlichkeit Angela Merkels zu tun. Es wird erhebliche Zeit dauern und grosse Anstrengungen erfordern, um die CDU/CSU und ihre Anhänger aus diesem Loch herauszuführen.
177 Seiten Koalitionsvertrag
Nun also mit voller Kraft voraus und von guten Absichten getragen der Startschuss für die rot-grün-gelbe Troika. Der 177 Seiten umfassende Koalitionsvertrag (zu Zeiten Konrad Adenauers hatte noch ein blosser Briefwechsel genügt) und die Zusammensetzung des künftigen Kabinetts sind noch nicht sonderlich aussagekräftig hinsichtlich der Leistungsfähigkeit der Neuen. Dass Olaf Scholz das Wahlkampfversprechen eingehalten und die Regierungsmannschaft nach Männern und Frauen praktisch ausgeglichen besetzt hat, ist gewiss löblich, aber noch kein Qualitätsnachweis. Ein interessanter Tatbestand ist allerdings augenfällig – alle drei «sicherheitsrelevanten» Bereiche liegen künftig in der Hand von Frauen: Aussenpolitik, Verteidigung und das Innenministerium.
Nun gebietet es ohne Frage allein schon die Fairness, jedem Mann und jeder Frau in politischer Verantwortung die Chance zur Bewährung zuzugestehen. Das bedeutet jedoch nicht ein Verbot der kritischen Beobachtung. Denn die dahinterstehende Frage richtet sich auf das Gewicht und die Bedeutung, die der Aussen- und Sicherheitspolitik von dieser Ampel-Koalition in Zukunft beigemessen werden.
Während des Wahlkampfs im Sommer und in den dazu gehörenden Programmen der Parteien spielte das Thema so gut wie überhaupt keine Rolle. Und auch in der jetzt vorliegenden Koalitionsvereinbarung ist es alles andere als prominent platziert. Dass dies so ist, kann freilich nicht allein «der Politik» angekreidet werden. Die Strategen orientieren sich damit ganz einfach nur an «Volkes Stimme». Tatsächlich interessiert sich die Mehrheit der Deutschen vor allem für die sozialen Fragen in ihrer ganzen Breite. Und ausserdem, ganz klar, für das Klima.
«... wenn die Kosaken kommen»
Es war der grosse liberale Vordenker Friedrich Naumann, der in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts den Satz prägte: «Was nützt die beste Sozialpolitik, wenn die Kosaken kommen.» Bemerkenswerterweise war diese Aussage nicht nur von Helmut Kohl mehrfach aufgegriffen worden, sondern auch von dessen sozialdemokratischem Vorgänger Helmut Schmidt. Der Hanseat versuchte damit seine Genossen darauf aufmerksam zu machen, dass Friedensliebe natürlich ausserordentlich löblich sei, aber gewisse Vorkehrungen gegen äussere Bedrohungen nicht ersetze.
Nach den beiden Christdemokratinnen Ursula von der Leyen (inzwischen EU-Kommissionspräsidentin) und Annegret Kramp-Karrenbauer ist die Sozialdemokratin und bisherige Bundesjustizministerin Christine Lambrecht künftig die dritte Frau in Folge in diesem Amt – das, nicht zu Unrecht, auch gern mit einem Schleudersitz verglichen wird.
Nun werden ganz gewiss die Kosaken nicht in der beschriebenen Weise kommen. Doch das erkennbare gesellschaftliche und politische Desinteresse am Thema Verteidigung macht schon nachdenklich angesichts der aktuellen russischen Drohgebärden an den Grenzen zur Ukraine und zu den baltischen Staaten. Rund 100’000 kampfbereite Soldasten plus 1’200 schwere Panzer – das sollte eigentlich mehr als nur ein Achselzucken im Westen auslösen.
Hinzu kommt der wirklich bejammernswerte Zustand, in den die Bundeswehr während der vergangenen dreissig Jahre seit der Wiedervereinigung unter dem Stichwort «Friedensdividende» heruntergespart wurde: materiell, personell und auch psychologisch. Man darf gespannt sein, ob und wie die neue Amtschefin dieses Problem angeht. Vor allem angesichts der Tatsache, dass natürlich der auf soziale Wohltaten pochende linke Flügel ihrer Partei mit Argusaugen jede sicherheitspolitische Budgeterhöhung verfolgen wird.
Auf den Spuren von Scheel und Genscher
Genau wie Christine Lambrecht hat natürlich auch die kurzzeitig zur grünen Kanzlerkandidatin ausgerufene Partei-Ko-Vorsitzende Annalena Baerbock Fairness verdient. Freilich dürfte sie es am schwersten haben, sich Meriten zu holen. Denn die Schuhe, in die sie als künftige Aussenministerin tritt, sind gross. Das Aussenamt war – fast schon traditionell – viele Jahre im Besitz der Freien Demokraten. Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Klaus Kinkel: Namen, die nachklingen. Vor diesem Hintergrund muss sich die abgebrochene Völkerrechtsstudentin Baerbock schon jetzt mit Fragen herumschlagen, wie sie denn wohl dem chinesischen Machthaber beim Einhalten der Menschenrechte Manieren beibringen wolle.
Das wird sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich überhaupt als die weiche Flanke grüner Politik in der Troika mit SPD und FDP erweisen. Die gewiss ehrenwerten Moralvorstellungen werden auf die harten Realitäten des Alltags treffen. Mit ziemlicher Sicherheit wird dies bereits auf der vergleichsweise noch komfortablen Ebene der EU geschehen. Mit absoluter Sicherheit aber in den Sphären der Weltpolitik.
Wie begegnet Annalena Baerbock zum Beispiel der Ankündigung Chinas, bis 2030 die Nummer eins in der Welt werden zu wollen? Wirtschaftlich und politisch sowieso, aber auch militärisch. Was wird sie angesichts der Neuen Seidenstrasse unternehmen? Das Mammutprojekt dient der Führung in Peking keineswegs als touristische Massnahme, sondern als geostrategisches Machtinstrument.
Schwachstelle der Koalition
Man kann es drehen und wenden wie man will. Aussen- und Sicherheitspolitik sind eindeutig die Schwachstellen der Ampel-Koalition. Nicht wegen der weiblichen Besetzung der jeweiligen Kommandobrücken. Sondern weil die Schwerpunkte sowohl von der Politik als auch von der Öffentlichkeit eindeutig von der Innen-, in Sonderheit der Sozialpolitik bestimmt werden. Hinzu kommt natürlich der ungünstige Zeitpunkt für die Übernahme der Regierungsverantwortung durch die Scholz-Mannschaft. Was immer sich die neue Koalition an Schwung vorgestellt haben mag, um Lust am Gestalten zu entwickeln, es wird von der aktuellen Corona-Welle erstickt.
Und so wird sich die deutsche Gesellschaft, werden sich speziell aber die professionellen Beobachter wohl noch geraume Zeit gedulden müssen, bevor sich vielleicht herauskristallisiert, wer sich von den drei Alphatieren im neuen Kabinett zum Strahlemann mausert. Bestimmt besitzt der Grüne Robert Habeck das Zeug dazu. Aber hat nicht die liberale Dauerhoffnung Christian Lindner ein geradezu phänomenales Ergebnis mit den entsprechenden Ministerposten herausverhandelt? Oder wird möglicherweise Olaf Scholz als Kanzler die Moderatorenrolle öfter verlassen müssen als ihm lieb ist, um die Ansprüche seiner Genossen zu befriedigen?
Wir sind auf jeden Fall gespannt und werden genauestens hinschauen. Nun aber sollen sie erst einmal loslegen und zeigen, dass sie zu etwas Neuem fähig sind.