Zeitgenossen mit einem Hang zur Ironie könnten sich bei dem, was gerade in Berlin abgelaufen ist, an den Witz von dem Chef erinnert fühlen, der zum Lehrling sagt: „So, jetzt machen wir auch noch Pleite, damit du das ebenfalls lernst.“
Offenbarungseid der Deutschland AG
Nach einem vier Wochen lang währenden Marathon, in dem CDU, CSU, FDP und Grüne wechselweise mit Überzeugungs- und Agitationsarbeit, tatsächlicher oder vermeintlicher Kompromissbereitschaft, aber auch gezielter Durchstecherei versuchten, irgendwie eine gemeinsame Plattform für eine Dreifarben-Regierung hinzubekommen, haben die Liberalen diesen Versuch scheitern lassen. Es sei besser, gar nicht als schlecht zu regieren, sagte der FDP-Vorsitzende Christian Lindner – und berief sich damit auf eine zentrale Aussage aus dem Wahlkampf.
Was jetzt vor der – je nach Stimmungslage und persönlich-politischer Betroffenheit – erstaunten, geschockten, jubelnden oder deprimierten Öffentlichkeit abläuft, ist das übliche Ritual: Wir waren es nicht, schuld sind die Anderen. In Wirklichkeit stehen alle Beteiligten vor demselben Debakel. Und das heisst schlicht und einfach – die Deutschland AG hat einen Offenbarungseid geleistet.
Wählerauftrag?
Anders ausgedrückt, die politische Elite des Landes erwies sich als unfähig, in einer – zugegeben – schwierigen Lage, parteipolitische Glaubensbekenntnisse zugunsten des Allgemeinwohls hintanzustellen. Oder, wie es momentan viele, vor allem in den so genannten Sozialen Netzen, formulieren, die in Berlin beteiligten Parteispitzen haben gegen den „Wählerauftrag“ verstossen.
Ist das wirklich so? Gibt es „den“ Wählerauftrag eigentlich? Richtig ist zweifellos, dass sich nach der Bundestagswahl am 24. September zahlenmässig nur eine (demokratische) Regierungsmehrheit aus CDU, CSU, FDP und Grünen errechnete, nachdem der bisherige Koalitionspartner der Union – die SPD – als Konsequenz ihres Debakels sofort ein weiteres Mitmachen ausschloss. Zudem kamen für CDU und CSU die aus der einstigen DDR-Staatspartei hervorgegangenen Linken und die rechtskonservative bis rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) als Partner nicht infrage.
Ideal und Wirklichkeit
Noch eine Bemerkung zum Wählerauftrag: Wer immer welcher Partei oder welchem Kandidaten seine Stimme gibt, tut dies mit einem speziellen Auftrag. Und der orientiert sich in aller Regel an der allgemeinen Ideologie oder dem jeweiligen Parteiprogramm. Aber in den Verhandlungen um mögliche Koalitonen kann dieser „Auftrag“ nicht direkt umgesetzt werden.
Wer also für die Grünen votierte, dachte natürlich nicht im Traum daran, mit seinem Kreuz auf dem Wahlzettel zugleich der ungeliebten Angela Merkel, schlimmer noch der CSU oder – für grüne Herzen beinahe so arg – den Liberalen an die Macht zu helfen. Umgekehrt galt logischerweise dasselbe. Und weil eben die einzelnen Programme, Persönlichkeits-Strukturen und politischen Kulturen so unterschiedlich, ja mitunter absolut gegensätzlich sind, ist die These vom angeblichen Wählerauftrag falsch.
Das Kreuz mit der Zuwanderung
Das bedeutet freilich keineswegs, dass gewählte Parteien nicht in der Pflicht wären. Die Bundesrepublik Deutschland ist, der Verfassung nach, ein Parteienstaat. Artikel 21 bestimmt: „Die politischen Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Der Hinweis auf die, teilweise radikal unterschiedlichen Denk- und Politik-Ansätze der wegen der Farben schwarz, gelb, grün unter dem Spitznamen „Jamaika“ vier Wochen zusammenhockenden Verhandlungsführer kann auch nur eine Teilerklärung für deren Scheitern sein.
Entscheidender waren wohl andere Gründe. Die künftige Politik gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden zum Beispiel. Für die bayerische CSU – und Bayern hat das Problem bislang mit Abstand am besten bewältigt – war und ist eine wie auch immer zu benennende Obergrenze für Migranten-Zuwanderung ein absolutes Muss. Das gilt zugleich für die ebenfalls höchst umstrittene Frage des Familiennachzugs bei nur zeitweilig „geduldeten“ Schutzsuchenden. Angesichts der kritischen Stimmung in der Bevölkerung bei dieser Frage befürchtet die CSU im Falle eines Nachgebens eine Katastrophe bei der Landtagswahl im kommenden Jahr. Schliesslich wirkt ja immer noch auch der rapide Absturz der sieggewohnten Christsozialen bei der Bundestagswahl nach.
Die grüne Furcht im Nacken
Nun muss sich die CSU vermutlich in Bayern nicht so sehr vor den Grünen fürchten. Umso mehr aber sorgten sich der inzwischen daheim heftigst umstrittene Ministerpräsident und Parteichef Horst Seehofer und seine Crew vor den Wirkungen eines allzu erkennbaren Nachgebens in der Flüchtlingsfrage in Berlin. Nicht leichter war und ist es zwischen diesen Lagern bei der Klimapolitik mit den Reizbegriffen Kohleausstieg und terminiertes Ende des Verbrennungsmotors. Da liegen Welten zwischen den Parteien. Und dies keineswegs bloss im Verhältnis von CSU und Grünen, sondern auch von CDU und FDP zu den einstigen Sonnenblumenfreunden. Nicht zu vergessen die traumatische Furcht der Liberalen, noch einmal als „Umfaller“ gebrandmarkt zu werden. Das und die aus den vielen Gegensätzlichkeiten erwachsenden Schwierigkeiten machen das Dilemma der bunten Verhandlungsführer erklärbar. Trotzdem aber bleibt der Vorwurf des Versagens.
Das beginnt mit dem Formalen, wie es der schleswig-holsteinische Grünen-Chef und Vize-Ministerpräsident Robert Habeck treffend benannte. Statt sich von Anfang an zunächst auf die „grossen“, die grundsätzlichen Themen und Probleme zu konzentrieren, vergeudeten alle Beteiligten unglaublich viel Zeit und Energie auf kleinliche Klammersätze, persönliche Streitigkeiten, öffentliche Festlegungen und vieles mehr. „Wir alle haben“, sagte Habeck, „Fehler gemacht.“
Und nun? Keine Frage: Die deutsche Politik steckt in einer Krise. In einer tiefen Krise sogar. Die wirkt nach innen wie nach aussen. Und sie vollzieht sich in einer Zeit eines spürbaren gesellschaftlichen Wandels. Schliesslich waren es ja diese Veränderungen, die zu der momentanen Situation mit ihrer für deutsche Verhältnisse ungekannten Parteien-Vielfalt führten. Manches deutet gar darauf hin, dass diese Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen sein wird. Neue soziale Fragen – zum Beispiel nach den Folgen der Digitalisierung und Globalisierung – harren der Beantwortung. Was wird man in Zukunft unter Solidarität verstehen? Weiss wirklich jedermann um die Bedeutung von Bildung?
Weiter weltoffen oder ins Schneckenhaus?
Deutschland ist nicht irgendein Land in Europa. Dies festzustellen, ist gewiss keine nationale Überhöhung. Es war der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einmal darauf hinwies, dass kein anderer Staat auf dem „Alten Kontinent“ so viele Aussengrenzen besitzt. Entsprechend wichtig ist, dass es hier, im Zentrum Europas, einen Punkt der Stabilität gibt. Daher ist die besorgte Frage nicht unberechtigt, ob die nach dem katastrophalen Krieg mühsam – aber erfolgreich – aufgebaute Demokratie mitsamt ihrer politischen wie wirtschaftlichen Stabilität und Offenheit auch in Zukunft erhalten bleibt. Oder ob man sich zwischen Rhein und Oder, Flensburg und Konstanz ebenfalls mehr und mehr in sein eigenes, nationales Schneckenhaus zurückzieht. „Vorbilder“ für eine solche Haltung gibt es ringsum genügend – es reicht der Blick nach Prag, Budapest, Warschau und Wien. Es war für deutsche Regierungen nie leicht, Politik in Europa zu betreiben. Ob von Bonn oder Berlin aus – immer wenn es schwierig oder finanziell klamm war, wurde nach Schmidt, Kohl, Schröder oder Merkel gerufen. Gleichzeitig kam, wie das Amen in der Kirche, allerdings auch die Warnung vor einer „deutschen Hegemonie“.
Helmut Kohl hatte im Zuge der deutschen Wiedervereinigung Vertrauen aufbauen können mit der – eingelösten – Versicherung, dass deutsche Politik immer zugleich auch Europapolitik sei. Stabilitätsanker in Europa zu sein, setzt aber auch Stabilität in Deutschland voraus.
Deshalb: Wie wird es jetzt weitergehen? Dass die FDP nach ihrem (durchaus inszeniert wirkenden) Auszug in Berlin noch einmal an den Verhandlungstisch zurückkehren könnte, erscheint ausgeschlossen. Aber da wären ja immer auch noch die trotz ihrer guten Arbeit in der Grossen Koalition im September gebeutelten Sozialdemokraten. Sie hatten noch am Wahlabend geschworen: Nicht mehr mit uns! Und ihre führenden Leute beeilten sich auch nach dem Jamaika-Fiasko, diesen Schwur zu erneuern.
Mal sehen, ob sie das durchhalten können. Schliesslich ist die SPD immer eine im Wortsinne staatstragende Partei gewesen. Zudem würde eine Fortsetzung des früheren Bündnisses zahlenmässig und politisch Stabilität versprechen. Und drittens hätten die Genossen, wie selten sonst, die Chance auf ein hohes Eintrittsgeld.
Der schnelle Ruf nach Neuwahlen
Natürlich kann der schnelle Ruf nach Neuwahlen nicht ausbleiben. Und auch die ersten Blitzumfragen sind bereits auf dem Markt. 67 Prozent der Unions-Anhänger sprechen sich angeblich für einen solchen ausserordentlichen Urnengang aus. Freunde der rechtslastigen AfD sollen sogar zu 90 Prozent darauf hoffen. Das leuchtet auf den ersten Blick sogar ein. Denn beweist das Berliner Jamaika-Scheitern nicht die Richtigkeit der Daueragitation der Populisten hinsichtlich der „abgewirtschafteten Systemparteien“?
Tatsächlich muss man kein Hellseher sein, um im Falle von Neuwahlen einen Stimmenzuwachs dieser „nationalen“ Sammlung zu erwarten. Die Frage ist allerdings, wie gross der sein würde. Denn bisher sagen sämtliche seriösen Erhebungen voraus, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wähler auch bei einem Sonder-Urnengang im Prinzip so votieren würden wie am 24. September. Und dann? Wählen und wählen und vielleicht nochmal wählen, bis – wem eigentlich? – das Ergebnis endlich passt?
Blick in die Verfassung
Ausserdem lohnt bei dem Ruf nach Neuwahlen immer ein vorheriger Blick in die Verfassung. Deren Väter und Mütter hatten aus gutem Grund, als Lehre aus dem Scheitern der Weimarer Republik, ziemlich hohe Hürden aufgebaut. Diese reichen von einem Konstruktiven Misstrauensvotum (also mit der Wahl eines neuen Bundeskanzlers mit einer neuen Parlamentsmehrheit wie im Falle des Wechsels von Helmut Schmidt auf Helmut Kohl 1982) über die Möglichkeit einer geduldeten Minderheiten-Regierung bis zur letztendlichen Auflösung des Bundestages und der Ausschreibung von Neuwahlen durch den Bundespräsidenten.
Keine Frage: Die Lage ist ernst. Und eigentlich verbietet sie allen Akteuren taktische Spielchen. Aber wo fangen taktische Spielchen an und wo enden sie? Parteien sind schliesslich keine blutleeren Gebilde; sie bestehen aus Menschen und deren Interessen. Muss man, zum Beispiel, extra darauf hinweisen, dass mit Erfolg oder Scheitern beim Versuch, die Krise zu meistern, nicht zuletzt auch das politische Schicksal Angela Merkels untrennbar verbunden ist? Oder dass die in Bayern scheinbar fest zementierte Macht der CSU zu wanken beginnt? Und wie steht es um die Zukunft des glücklosen, kurzzeitigen SPD-Heilsbringers Martin Schulz? Das auf der stürmischen politischen Reise nach Jamaika zerschellte Schiff hat, ohne Zweifel, mehr Hoffnungen als Befürchtungen mit in die Tiefe gerissen.