
Der deutsche Bundestag hat die Botschafter von Russland und Belarus nicht zur zentralen Gedenkveranstaltung am 8. Mai zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs eingeladen. Die Botschafter anderer Länder, die im Diplomatischen Corps vertreten sind, erhielten Einladungen. Man wolle, so hiess es im Auswärtigen Amt, vermeiden, dass die Gedenkstunde von russischer Seite «instrumentalisiert» werde. Aber wird damit nicht eine Chance vertan?
Der Blick auf die Vergangenheit dient auch der Orientierung in der Gegenwart. Vor vierzig Jahren nahm der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine Rede zum 8. Mai im Deutschen Bundestag zum Anlass, das Kriegsende neu zu sehen. Dieser Tag sei nicht als «Niederlage» Deutschlands zu werten, sondern solle «als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus» betrachtet werden. Die Verbrechen des Nationalsozialismus legten Deutschland eine besondere Verantwortung in der Gegenwart auf, sich für Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit einzusetzen.
Der Blick zurück veränderte den Blick nach vorn. Das war eine Sternstunde, und man muss fragen, welchen Sinn heute Gedenkfeiern haben, wenn sie nicht mehr bieten als die routinierte Zurschaustellung von Betroffenheit. Wieder und wieder hört man in Bezug auf die Verbrechen des Nationalsozialismus, dass «sich solches nicht wiederholen darf». Das ist und bleibt wahr und richtig. Aber ist es sinnvoll, dass sich Gedenkfeiern in den immer gleichen Ritualen und Beschwörungsformeln erschöpfen?
Die Russen als Feinde
Das mochte in den Jahren, als die Welt noch fester als heute gefügt war, hingehen. Jetzt aber leben wir in neuen Zeiten des Krieges. Wir sind der Vergangenheit wieder sehr viel näher gerückt, und wieder sind die Russen unsere Feinde. Deswegen gehören sie vermeintlich nicht in die Feierstunde. Aber zur historischen Wahrheit gehört auch, dass ohne die russische Armee der «Tag der Befreiung» noch sehr viel länger hätte auf sich warten lassen. Zugleich wussten die westlichen Alliierten, dass Stalin ein Verbrecher war. Und die russischen Soldaten waren so berüchtigt, dass jeder, der irgend konnte, floh, bevor sie näher kamen.
Aber Stalin und seine Marodeure haben einen Anteil am «Tag der Befreiung». Man konnte auf sie nicht verzichten. Danach entstand eine zwar spannungsreiche, aber vergleichsweise stabile Nachkriegsordnung. Die ist dahin, und wir erleben derzeit nicht nur den Zerfall politischer Ordnungen, sondern auch den Niedergang politischer Vernunft – in Ost und West. Darin ähnelt unsere Zeit dem «Höllensturz» (Ian Kershaw) des vergangenen Jahrhunderts.
Die Chance nutzen
Vor diesem Hintergrund wirkt eine Gedenkveranstaltung, die sich im Rückblick erschöpft und unliebsame Teilnehmer gar nicht erst zulässt, reichlich schal. Man könnte den 8. Mai 1945 auch als einen Tag sehen, an dem aus dem Hass und der Zerstörungswut der Kriegsjahre von 1914 an etwas unerwartet Neues entstand: Nach und nach konnten sich die Akteure auf Verträge und Ordnungen einigen, die Stabilität und Frieden ermöglichten. Dreissig Jahre lang war das nicht möglich gewesen. Alle Versuche scheiterten. 1945 aber wurde wieder fester Boden betreten. Historiker sehen in dieser Wende eine Parallele zum Westfälischen Frieden von 1648, der den Dreissigjährigen Krieg beendete. Wieder und wieder waren Verständigungsbemühungen ins Leere gelaufen, bis man endlich Bedingungen schaffen konnte, die verbindliche Verträge ermöglichten.
Eine Gedenkfeier kann auch als Chance genutzt werden. In gewisser Weise ist sie exterritorial. Sie ist aus dem politischen Alltag herausgehoben. Der Blick zurück kann mit einem Blick nach vorn ergänzt werden. Es dürfen in aller Vorsicht Wünsche geäussert werden. Joschka Fischer stellt in seinem neuen Buch über die Kriege der Gegenwart nüchtern fest, dass weltgeschichtlich betrachtet kein Krieg ewig dauert. Der Feind von heute wird irgendwann wieder zum Nachbarn, mit dem man Verträge schliesst. Das erscheint gegenwärtig in Bezug auf Russland undenkbar. Aber auf die Dauer ist es unausweichlich. Auch daran könnte eine Gedenkfeier erinnern und vor den russischen Gästen den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass diese Zeiten nicht allzu lange auf sich warten lassen.