In Deutschland wird über die Wiedereinführung der Wehrpflicht gestritten. In der vergangenen Woche kam es dabei zu einem Éclat, der nicht nur die Bundesregierung blossstellte, sondern die Defizite heutiger Politikstile sichtbar machte.
Im Zeichen der Bedrohung durch Russland sind sich die Verteidigungsexperten einig, dass es mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht ausreichen wird, die notwendige Stärke der Bundeswehr allein auf der Basis von Freiwilligkeit zu erreichen. Im Klartext heisst dies: Die Zeiten der Aussetzung der Wehrpflicht sind vorbei. Soweit, so klar. Nun entsteht aber ein neues Problem: Wenn die jeweils betroffenen Jahrgänge komplett gemustert werden, wird man wohl zu viele potentiell Wehrpflichtige für den Dienst an der Waffe haben. Die Bundeswehr ist darauf materiell und organisatorisch nicht eingestellt.
Eine schwierige Situation: Freiwilligkeit allein bringt zu wenig Nachwuchs, die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht wiederum würde die Bundeswehr höchstwahrscheinlich strukturell überfordern. Der Verteidigungsminister Boris Pistorius und andere Experten aus der CDU haben zur Lösung dieses Problems verschiedene Ideen entwickelt und wollten diese vor der geplanten Debatte im Bundestag in der vergangenen Woche vor den Medien erklären. Pistorius wollte die kompletten Jahrgänge der Musterung unterziehen, um einen zuverlässigen Überblick zu erhalten, und hatte für die spätere Auswahl der Rekruten Kriterien entwickelt. Kurzfristig und unabgesprochen brachte die CDU für die Musterung ein Losverfahren ins Spiel. Das Ganze war so überraschend, dass eine anberaumte Medienkonferenz für den Vorabend der eigentlichen Bundestagsdebatte kurzfristig abgesagt werden musste.
Durcheinander und Autoritätsverlust
Allgemein sprach man von einer Riesenblamage der Koalition, doch liegt das Problem weitaus tiefer. Es geht dabei um die heutigen Wege der Entscheidungsfindung und überhaupt der Regierungs- und Kommunikationsstile.
Man kann fragen, wieso eigentlich Lösungsvorschläge innerhalb einer Koalition bereits am Tag vor den Diskussionen im Bundestag den Medien präsentiert werden müssen. Der umgekehrte Weg wäre richtig: Der Bundestag diskutiert Probleme sowohl in den dafür zuständigen Ausschüssen und im Plenum, und wenn er sich auf eine Lösung geeinigt hat, werden die Ergebnisse entsprechend den Medien mitgeteilt. Aber heute kann alles nicht schnell genug gehen, und jeder Abgeordnete kann zudem in den Medien jeweils seine Geistesblitze platzieren. Dadurch entsteht der Eindruck eines riesigen Durcheinanders und vor allem eines Autoritätsverlustes der politischen Führung und insbesondere des Kanzlers.
Beobachter haben in Bezug auf die entgleiste Debatte um die Wehrpflicht darauf hingewiesen, dass dadurch dem ganzen Thema enorm geschadet wurde. Die Wehrpflicht ist ein äusserst ernstes Thema, das in die Schicksale zahlreicher junger Menschen eingreift. Dazu passt es nicht, wenn Lösungen, die mit heisser Nadel gestrickt worden sind und entsprechend nur halb durchdacht wurden, möglichst schnell den Medien präsentiert werden. Wenn der Staat etwas Entscheidendes und Existentielles von seinen Bürgern verlangt, dann erfordert ein solcher Eingriff in ihr Dasein den allergrössten Ernst und die allergrössten Seriosität im Gesetzgebungsverfahren.
Die Würde des «Hohen Hauses»
Entsprechend ist die Idee eines Losverfahrens problematisch. Es ist zwar richtig, dass es auch in Deutschland in den letzten Jahrzehnten solche Verfahren gegeben hat, um den Zustrom der Rekruten zu kanalisieren. Das heisst aber nicht, dass ein solches Verfahren auch heute noch auf allgemeine Akzeptanz stossen würde, zumal noch gar nicht feststeht, wie es ausgestaltet sein soll. Was aber heute schon klar sein muss, ist, dass bei der Einführung von Losverfahren eine Klageindustrie entstehen würde. Viele von denen, die nicht zur Bundeswehr wollen, aber auf die der schicksalsschwere Losentscheid gefallen ist, werden sich mit juristischen Mitteln zur Wehr setzen. Und wer in der Bundeswehr landet, ohne es zu wollen, hat neben dem Schaden möglicherweise noch den Spott zu ertragen, dass er sich wohl keinen guten Anwalt hat leisten können.
Das alles sind Fragen, die einer sehr sorgfältigen Debatte bedürfen. Dazu reichen Schnellschüsse vor den Medien nicht aus. Und es stellt sich überhaupt die Frage, ob nicht das schlechte Erscheinungsbild der Koalition damit zusammen hängt, dass alles möglichst sofort in die Öffentlichkeit getragen oder in Talkshows verhandelt wird. Leider neigt auch der Kanzler dazu, viele seiner Gedanken möglichst unmittelbar in den Medien heraus zu posaunen.
Autorität könnten der Kanzler und die Führungen der Fraktionen wieder erlangen, indem sie, wie dies früher einmal der Fall war, von den Abgeordneten verlangten, in der Öffentlichkeit Stillschweigen über laufende Debatten zu halten und nicht schon dann an die Öffentlichkeit zu treten, wenn Themen noch gar nicht in den dafür vorgesehenen Institutionen des Bundestags ausreichend durchdacht und diskutiert worden sind. Früher hat man den Bundestag als das «Hohe Haus» bezeichnet. Diese Würde gilt es zurückzugewinnen. Dann lassen sich auch Entscheidungen, die zahlreiche Menschen existentiell betreffen, leichter akzeptieren.