
Es war eine der bewegendsten und aussergewöhnlichsten Produktionen dieser Saison auf einer Schweizer Bühne: das Oratorium «Stabat Mater».
Giovanni Battista Pergolesi hat es im Jahre 1736 noch kurz vor seinem Tod mit nur 26 Jahren geschrieben Das Grand Théâtre Genf hat es nun in der Kathedrale St. Pierre aufgeführt. Schon Wochen zuvor waren sämtliche Aufführungen ausverkauft. Nur schon die Namen Barbara Hannigan und Jakub Józef Orlinski auf der Besetzungsliste und Romeo Castellucci als Regisseur dürften wesentlich dazu beigetragen haben.
Herausgekommen ist ein Kraftakt für das Publikum und das Ensemble gleichermassen. Physisch und emotional.
Laufsteg in der Kathedrale
Wie ein Laufsteg zieht sich die Bühne längs durch das grosse, calvinistisch karge Kirchenschiff. Im Halbdunkel ziehen Soldaten in Vollmontur zum Altar. Der allgegenwärtige Krieg unserer Tage, die militärische Bedrohung, Tod und Verderben werden einem gleich zu Beginn beklemmend und aktuell vor Augen geführt. Statt Waffen tragen die Soldaten Instrumente, alle in dunkelgrüner Tarnfarbe.
Was sie spielen, ist eine Art Ouvertüre, allerdings ist es zeitgenössische Musik, kurze Stücke für Orchester und «Three Latin Prayers», komponiert von Giacinto Scelsi. Dirigiert von Barbara Hannigan, ebenfalls in Tarnuniform. Fremde, spröde Töne.
Ganz harmonisch dann der Übergang zu den barocken Klängen Pergolesis.
Das Publikum verfolgt gebannt die zutiefst berührende Geschichte über Maria und ihren Schmerz um den gekreuzigten Jesus. Barbara Hannigan, nun als Sängerin, und Jakub Józef Orlinski als Countertenor bewegen sich auf dem schmalen Laufsteg und singen betörend diese Leidensgeschichte. Gleichzeitig bricht die Nacht ein, es wird immer dunkler in der Kathedrale und auch kälter. Niemand kann sich der Schönheit der Musik entziehen, und das macht die Tragik der Geschichte nur umso beklemmender.
Denkwürdige Aufführung
Tief berührt verlässt das Publikum schliesslich die Kathedrale nach dieser denkwürdigen Aufführung. Und man fragt sich gleichzeitig, wie nehmen das die Darsteller wahr. Wie ist es insbesondere für Jakub Józef Orlinski, den Shooting Star unter den Countertenören. Orlinski, der gerade noch im Zürcher Opernhaus in Händels «Agrippina» brilliert hat und international auch mit waghalsigem Breakdance für Aufsehen sorgt, also in ganz unterschiedlichen Sparten beeindruckt.
«Ehrlich gesagt, bin ich immer noch dabei, mich zu erholen …», gesteht er nach der letzten Vorstellung. «Diese Produktion hat mich viel gekostet …, aber durchaus in einem positiven Sinn, denn schwierige Stoffe wecken starke Emotionen und das braucht man manchmal. Es war eine echte Herausforderung, dieses kraftvolle Stück zu erarbeiten: schauspielerisch ebenso wie gesanglich. Aber vor allem geistig und emotional. Meine Stimme hat während der Proben und in den Aufführungen gut durchgehalten. Aber ich habe einen ruhigen Ort gebraucht, um mich zu erholen und die beklemmenden Gefühle loszuwerden, die bei der Auseinandersetzung mit den Themen dieser Aufführung aufkommen.»
Gleichzeitig ist für Orlinski durch die Arbeit mit dem Regisseur Romeo Castellucci ein Traum wahr geworden. «Mir hat die Art gefallen, wie er mit uns gearbeitet hat. Zum Beispiel, dass er mir nicht immer erklärt hat, was er meint, sondern er liess es mich selbst herausfinden. So hatte ich jeden Abend das Gefühl, etwas Neues entdeckt zu haben, das von grosser Bedeutung ist. Es war wie eine Fahrt in der Achterbahn. All diese Erfahrungen mit ‚Stabat Mater‘ haben mich tief berührt.»
Und wie hat er reagiert, als die Anfrage für diese Produktion aus Genf kam?
«Ich war wirklich begeistert, als ich hörte, dass Barbara Hannigan mit mir dieses ‚Stabat Mater‘ singen wird. Sie ist eine unglaubliche Künstlerin. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Auftritt beim Festival in Aix-en-Provence. Barbara Hannigan sang 2016 dort in der Produktion von ‚Pelléas et Melisande‘ und war sowohl stimmlich als auch schauspielerisch einfach grossartig. Das hat mich tief beeindruckt. Später kreuzten sich unsere Wege in Evian, wo wir beide bei der Preisverleihung der Victoires de la Musique sangen. Allerdings nicht zusammen … Da ich ihre künstlerischen Fähigkeiten kenne, wusste ich, dass es ein grossartiges Erlebnis sein würde, dieses ganz besondere ‚Stabat Mater‘ mit ihr zu erarbeiten.»
Grosse Herausforderungen
Und was war die grösste Herausforderung dabei?
«Ich muss sagen, dass die Aufführung fürs Publikum zwar nicht besonders kompliziert aussieht, aber es gibt viele technisch anspruchsvolle Aktionen. Einer der herausforderndsten Momente war der zweite Satz ‚Cujus animam gementem‘. Einige Schauspieler und ich mussten Barbara mit drei riesigen, zwölf Meter langen Stangen stossen. Wir haben lange daran gearbeitet, bis alles geklappt hat. Da ging es um Sicherheit und Dramatik, es musste musikalisch aufgehen und die Stangen durften nicht kaputtgehen.»
Die zweitgrösste Herausforderung war die Koordination mit den Musikern. «Wir hatten das grossartige Orchester ‚Il Pomo d’Oro‘ hinter und nicht vor uns. Sie mussten buchstäblich unseren Atem spüren, damit wir bei den Einsätzen alle gleichzeitig waren. Das war verrückt und schien anfangs unmöglich. Ein grosses Lob an Pomo d’Oro! Sie sind einfach so gut und brachten es fertig, uns exakt zu begleiten, ohne uns zu sehen! Natürlich haben Barbaras hervorragende Leitung und viele kleine Tricks auch dazu beigetragen, dass alles reibungslos und wie geschmiert ablief.»