Die anfängliche Euphorie scheint vielerorts verflogen, die prekäre Alltagssituation der Menschen, die fast alle unter der Armutsgrenze leben, wird überall sichtbar und die instabile Sicherheitslage bedroht unmittelbar die Lebenswelten der Gemeinden und Kommunen.
Die Menschen in Syrien müssen einen neuen politischen Gemeinsinn finden, mit dem sie sich als Gesellschaft konstituieren können. Dies wiederum könnte die Basis für eine neue Staatlichkeit bilden, die das Erbe der 61-jährigen Baath-Diktatur überwinden hilft.
Die Verkürzung des alten Regimes auf Bashar al-Asad ist zwar angesichts der nationalistischen Überhöhung des Diktators zur heilsreligiösen Erlöserfigur durchaus berechtigt, verdeckt aber die Tatsache, dass al-Asads ideologische Macht auch auf der totalitären Ordnung der Baath-Partei beruhte. Die syrische Baath-Partei hatte etwa 120’000 Mitglieder und 500’000 «Anwärter»; ihre Hausmacht hatte die 1966 als «Syrische Partei» gegründete Kaderbewegung in den ländlichen Gebieten der alawitischen Provinzen Tartus und Latakia sowie im drusischen Bergland und im Militär. Ideologisch war die Baath («Mission») einer ultranationalistischen, rechtsextremen Interpretation panarabischer Politik verpflichtet, die sich im Zuge der sowjetischen Ostanbindung mit linkssozialistischer Rhetorik schmückte.
Mit dem Putsch Hafiz al-Asads 1970 verlagerte sich das Machtzentrum der Partei in den Norden des alawitischen Landes mit der Kleinstadt Qardaha als sozialem Zentrum. Die Baath-Partei machte ihre Ideologie zur politischen Religion, baute mit ihr Syrien zu einem totalitären Überwachungsstaat aus und sicherte der Nomenklatura alle sozialen und wirtschaftlichen Privilegien, über die der Staat verfügte. Ab etwa 2010 überformte ein Asadismus, der Bashar al-Asad zur nationalen Erlöserfigur erhob, den ideologisch nicht mehr erneuerungsfähigen Baathismus. Seine Ideologie verstärkte nun ihr ethnonationalistisches Profil. Die Seilschaften, Kadergemeinschaften und Netzwerke nahmen fast tribale Züge an und drohten nun die neue Ordnung zu untergraben.
Die Aktivitäten der Baath-Partei, deren Kader fast alle in den Libanon geflohen sind, werden argwöhnisch beobachtet. An der Grenze zu Syrien hat sich eine bewaffnete Formation von Baath-Mitgliedern gebildet, die zur Wiederherstellung der Baath-Ordnung aufruft, ohne sich jedoch auf Bashar al-Asad zu beziehen. Dieser Verdacht richtet sich auch gegen einige mittlere Ränge der alten Armee, denen putschistische Ambitionen nachgesagt werden.
Syrisches Bürgertum gegen eine ägyptische Entwicklung
Einige Beobachter befürchten eine Entwicklung ähnlich der in Ägypten. Demnach würde nach einer Phase, in der die neue Führung agiert, eine breite Protestbewegung entstehen, die dann von Teilen des Militärs protegiert wird, woraufhin das Militär per Notstandsordnung die Macht übernimmt und die Unterstützer des Revolutionsregimes ausschaltet. Dies wäre dann die Grundlage für einen neuen Autoritarismus, legitimiert durch die vielen Autoritarismen, die weltweit entstanden sind.
Dieses ägyptische Szenario wäre allerdings kaum im Interesse eines Bürgertums, das sich politisch und sozial erst langsam wiederfindet. Der syrische Staatsnationalismus hatte das Bürgertum nicht nur politisch, sondern auch sozial weitgehend entmündigt. Die Kaufleute in Aleppo, Hama, Homs und Damaskus sehen nun wieder die Chance, dieser bürgerlichen Kultur, die Syrien im 19. und 20. Jahrhundert geprägt hat, eine politische Stimme zu geben. Ihre Hoffnung ruht auf einer politischen Ordnung, die – ähnlich wie in der Türkei – dem Händler- und Unternehmertum sichere Spielräume eröffnet, Staat und Wirtschaft in einer Interessenallianz zusammenführt und durch eine konservativ-liberale Gesellschaftspolitik das soziale Feld des Bürgertums absichert. Dazu gehörte auch eine umsichtige Religionspolitik.
Religion und Opposition
Die Religion dürfte zu einem Dreh- und Angelpunkt des Verfassungsprozesses in Syrien werden. Das Scheitern der Politik der Muslimbruderschaft in Ägypten unter Präsident Muhammad Mursi wird auch den neuen Machthabern in Damaskus zeigen, dass Religion nicht einfach als normative Ordnung in die Verfassung implementiert werden kann. Sollte dies in Syrien versucht werden, dürfte dies zu einem mörderischen Selbstkrieg führen.
Al-Sharaa hat bereits bei der Machtübernahme in Aleppo erkennen lassen, dass er seine Haltung zur politischen und gesellschaftlichen Funktion der Religion und damit auch des Islam geändert hat. Die einen halten das für unglaubwürdig, die anderen für aufrichtig. Beide Seiten sammeln Belege, die entweder zeigen sollen, dass al-Sharaa doch so etwas wie einen islamischen Gottesstaat im Sinn hat oder dass er eine religiöse Ordnung gleichgewichtiger Pluralität anstrebt. Klar sei, so al-Sharaa, dass Religion eine konstitutive Grösse Syriens sei. Der Islam sei eine Religion, deren normative Gebote und Verbote nicht vom Staat durchgesetzt werden könnten. Religion verwirkliche sich immer im Individuum, das aufgrund seiner eigenen Frömmigkeit über die Befolgung der normativen Ordnung entscheide.
Al-Sharaa zeigt sich hier ganz als islamischer Pietist und Verfechter einer nationalreligiösen Idee. Konservative Prediger stimmen ihm zu. Sie betonen, dass Syrien seit der französischen Kolonialzeit von einer säkularistischen Ordnungsvorstellung geprägt sei, die dem Land aber nur Diktatur, Krieg und Elend gebracht habe. Der Säkularismus sei gescheitert, nun müsse die Religion zeigen, dass sie das Land besser repräsentiere. Mit «Religion» sei immer die konfessionelle Pluralität Syriens gemeint.
Im sozialen Konsens der Gesellschaft spielt die Religion neben der genealogischen Herkunft, dem Beruf und der lokalen Vergemeinschaftung eine wesentliche Rolle, mit der Solidarität, Macht und Prestige verbunden sind. Die Konfession (arabisch «ṭā᾽ifa») bildet heute die zweithöchste Ebene, auf der sich Gemeinschaften zusammenfinden. Die höchste Ebene bildet seit dem 19. Jahrhundert die Zugehörigkeit zu ethnischen Grossgruppen, die zum Teil auch religiös definiert sind: Araber, Kurden, Alawiten, Drusen und je nach politischer Situation auch Christen.
Für die politische und gesellschaftliche Alltagspraxis sind jedoch die Konfessionen von grösserer Bedeutung. Hier sind 20 Konfessionen massgeblich. Die dominierende dogmatische Richtung sind die sunnitischen Gemeinschaften, gefolgt von den schiitischen Gemeinschaften und der christlichen Orthodoxie. Diese vielgestaltige religiöse Landschaft wird nur durch die gegenseitige Anerkennung der Frömmigkeit und ihrer gesellschaftlichen Praxis zusammengehalten. Lediglich der islamische Staat und einige salafistische Eiferer beanspruchen für sich das Recht, ihr eigenes Frömmigkeitsverständnis in einer gesamtgesellschaftlichen Normen- und Zwangsordnung durchzusetzen.
Bemerkenswert ist, dass religiöse Würdenträger diese Landschaft in besonderer Weise aufwerten. Religion wird von ihnen als Instrument der Durchsetzung innergesellschaftlicher Toleranz verstanden. Religion habe die Aufgabe, die moralischen Grundlagen der Nation zu sichern, aber nicht durch die Reproduktion vermeintlicher Ge- und Verbote aus frühislamischer Zeit, sondern aus den Herausforderungen der Gegenwart geschöpft. Gegenüber Walid Jumblat, dem politischen Führer der Drusenpartei im Libanon, sagte al-Sharaa kürzlich, der Islam dürfe nicht auf der Reproduktion der frühislamischen Ordnung einschliesslich der damaligen Feindbilder beruhen. Da er zugleich einer ethnonationalistischen Interpretation des Islam eine klare Absage erteilte, dürften Befürchtungen, Syrien könne zu einem zweiten Afghanistan werden, vorerst vom Tisch sein.
Der Übergangspräsident
Zwei Wochen nach der Machtübernahme in Damaskus hat der Oberkommandierende der HTS, Ahmad Husain Al-Sharaa, früher Emir genannt, die Amtsbezeichnung «Übergangspräsident Syriens» angenommen. Ihm zur Seite steht nun ein ziviles Kabinett unter der Leitung von Muhammad al-Bashir. Dazu gehört auch ein Verteidigungsminister, der die neuen syrischen Streitkräfte exekutiv führen soll. Al-Sharaa hatte sich nicht nur den Kampfnamen, sondern auch den Habitus eines Kommandanten zugelegt.
Nun zeigt er sich gerne als einfacher Mann, der mit Freunden in Restaurants und Cafés sitzt, seine Gäste selbst mit dem Auto durch die Stadt kutschiert und sich durch seine Kleidung als Bürger und Zivilist zu erkennen gibt. Der 42-Jährige ist der Sohn eines von den Golanhöhen stammenden Ökonomen, der als Nasserist zweimal vom syrischen Regime inhaftiert wurde, 1979 in Saudi-Arabien Asyl fand und dort als Wirtschaftsexperte im saudischen Ölministerium arbeitete. Sein Cousin ist der syrische Karrierediplomat Faruq al-Sharaa, der lange Jahre Aussenminister und von 2006 bis 2014 Vizepräsident war. Gerüchten zufolge soll Faruq al-Sharaa inzwischen nach Jordanien geflohen sein. Ahmads neun Jahre älterer Bruder Mahir hatte sich als Arzt der HTS-Heilsregierung in Idlib angeschlossen und wurde kürzlich von Übergangspremier Muhammad al-Bashir zum Gesundheitsminister ernannt.
Ahmad, selbst in Riad geboren, kehrte 1989 im Alter von sieben Jahren mit seiner Familie nach Syrien zurück. Der Vater übernahm ein Handelsunternehmen im Stadtteil Mezze, der Sohn arbeitete dort teilweise mit. Im Jahr 2000 begann Ahmad ein Studium der Medienwissenschaften an der Universität Damaskus. Anders als sein Vater orientierte sich Ahmad schon während des Studiums an islamischen Kreisen und besuchte vor allem den Zirkel des Predigers in Aleppo, Mahmud Qul Aghassi Abu Qaʿqaʿ, der 2003 die ultrareligiöse Gemeinschaft der «Fremden der Levante» gegründet hatte. Qul Aghassi, der 2007 bei einem Attentat getötet wurde, machte al-Sharaa zu einem engen Gefolgsmann.
2003 brach al-Sharaa sein Studium ab und ging als Jihadist in den Irak, wo er sich der al-Qaʿida unter Abu Musʿab al-Zarqawi anschloss. Von 2006 bis 2008 befand er sich in US-Gefangenschaft und stieg nach seiner Freilassung und dem Tod al-Zarqawis in der lokalen Hierarchie der al-Qaʿida auf. Im Sommer 2011 kehrte er nach Syrien zurück und übernahm dort die «Hilfsfront» für die irakische al-Qāʿida (Nusra). Bei der Abspaltung des Islamischen Staates im Irak von der Mutterorganisation blieb al-Sharaa der al-Qaʿida treu, leistete aber auch den Treueeid auf den Emir des Islamischen Staates, Abi Bakr al-Baghdadi.
2016 beteiligte sich Nusra an der Zerschlagung des Islamischen Staates. Gleichzeitig bildeten sich in Idlib neue Verwaltungseinheiten, die sich nach und nach zu einer parastaatlichen Organisation entwickelten. Im Zuge dieser Reorganisation gelang es al-Sharaa, die fünf wichtigsten Milizen mit Ausnahme der salafistischen Gruppen in einer «Organisation zur Befreiung der Levante» (HTS) zu vereinen. Gleichzeitig verlor er seine ultrareligiöse Haltung zugunsten einer nationalreligiösen Ausrichtung, die zum Sammelbecken der militanten Opposition in Idlib werden sollte. Die neuen zivilen Institutionen wurden einer «Heilsregierung» (im Sinne einer Notstandsregierung) unterstellt.
Die Professionalisierung erfasste nun auch die Milizen der HTS, die nach 2019 – wohl auch mit türkischer Hilfe – zu einer schlagkräftigen militärischen Formation wurden. 2016 erklärte al-Sharaa, dass die HTS nicht mehr Teil des al-Qaʿida-Netzwerks sei. 2021 vollzog er auch eine endgültige Trennung von der religiösen Dogmatik der al-Qaʿida. Er betonte, dass die USA und ihre Institutionen nicht mehr als Angriffsziel betrachtet würden. Im Gegenzug wurde die strategische Allianz mit der Türkei gefestigt. Der neue Übergangspräsident al-Sharaa dürfte sich zunächst am türkischen Politikmodell orientieren, allerdings ist mit einer Akzentverschiebung zu rechnen, da der türkische Etatismus nicht auf syrische Verhältnisse übertragbar ist.
Wiederaufbau
Kernpunkt des staatlichen Wiederaufbaus, den al-Sharaa nun als «Revolution» bezeichnet, wird die Etablierung einer zivilen Repräsentationsebene sein, auf der möglichst viel gesellschaftliche Partizipation aufbaut. Nur so könne gewährleistet werden, dass es dem Staat tatsächlich gelingt, die Milizen zu entwaffnen. Zunächst war von Dezentralisierung die Rede. Diese käme der kommunalen Verfasstheit der syrischen Gesellschaft sehr entgegen. Doch die neue Führung scheint davor zurückzuschrecken. Dabei dürften die Erwartungen der politischen Akteure in der Nordostprovinz eine Rolle spielen. Die Führung in Damaskus will – möglicherweise auf Drängen der Türkei – eine regionale Repräsentation verhindern, die zu einer separatistischen Kurdenpolitik führen könnte. Dies soll durch einen Zentralismus verhindert werden, der zwar Rechtsgleichheit definiert, aber die subsidiäre Selbstorganisation von Bevölkerungsgruppen nach spezifischen Eigeninteressen unterbindet.
Eine Zentralisierung soll auch helfen, die marodierenden ultrareligiösen Banden, denen sich meist ausländische Dschihadisten angeschlossen haben, auszuschalten. Diese finanzieren sich fast ausschliesslich aus dem Land, das sie mit Raub und Erpressung terrorisieren. Etwas anders gelagert, aber im Kern ähnlich, sind die militanten Reste des alten Regimes, die sich zum Teil als Baath-Loyalisten neu formieren und nach wie vor den weiterhin florierenden Öl- und Drogenschmuggel kontrollieren.
Übergangsjustiz
Die zentrale Frage ist, ob die soziale Reintegration der syrischen Bevölkerung als Gesellschaft gelingt. Viel wird davon abhängen, ob eine Übergangsjustiz institutionalisiert wird. Ohne sie droht das Land in der Falle zwischen der Repression eines wachsenden Autoritarismus und der Selbstermächtigung zu Rache- und Vergeltungstaten gefangen zu bleiben. Als ersten Schritt hat die neue Regierung eine Liste mit rund 140 Hauptangeklagten veröffentlicht und die lokalen Behörden ermächtigt, einzelne Entscheidungsträger des alten Regimes in Haft zu nehmen. Auch Mitglieder der Shabiha-Banden, einer Art SA des Asad-Regimes, werden aufgespürt und verhaftet. Umso dringender ist es, dass der Justizapparat den Umgang mit Angehörigen des alten Regimes in geordnete Bahnen lenkt.
Eine Übergangsjustiz kann dazu beitragen, der Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass der Staat ihr Leid nicht vergisst, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt und dass sich die neue Gesellschaft auch in Erinnerung an das erlittene Leid als Solidargemeinschaft konstituieren kann. Hier wird das neue Regime auf die Unterstützung der europäischen Länder angewiesen sein, schon allein deshalb, weil nicht wenige Täter der alten Unterdrückungsordnung nach Europa geflohen sind.
Übergangsjustiz ist aber auch notwendig, um die innergesellschaftlichen Beziehungen zu befrieden. Mit ihr liesse sich eine Balance zwischen Gerechtigkeitserwartungen und Versöhnung herstellen, die gerade in kommunalen Welten Voraussetzung für Befriedung ist. Sie würde auch die Entwaffnung erleichtern. Sie setzt ein Mindestmass an Vertrauen in die Autorität des Staates voraus, insofern als sie den Selbstschutz der Gemeinschaften, der nun seit zwölf Jahren wichtig ist, tatsächlich aufhebt.
Der Nordosten
Zwar haben die SDF, die Syrischen Demokratischen Kräfte, Verhandlungen über ihre Integration in die neue syrische Armee zugestimmt, doch ist der schwelende militärische Konflikt zwischen protürkischen und prokurdischen Parteien damit nicht gelöst.
Die genaue Zahl der türkischen Truppen in Syrien ist nicht öffentlich bekannt. Es dürfte sich aber um mehrere Tausend Soldaten handeln, die dort stationiert sind oder regelmässig rotieren. Die mit der Türkei in Nordsyrien verbündete Syrische Nationalarmee (SNA) verfügt zwar über eine gefestigte Kommandostruktur, ist aber aufgrund der sie tragenden Milizen politisch und ideologisch stark ausdifferenziert. Sie soll derzeit etwa 30’000 Mann unter Waffen haben.
Auf der anderen Seite stehen die SDF, die nominell das militärische Organ der autonomen Nordost-Provinz sind. Drei Viertel der vielleicht 60’000 Soldaten dürften jedoch Angehörige der Volksverteidigungseinheiten (YPG) sein, der militärischen Formation der Partei der Demokratischen Union (PYD), der syrischen Schwesterpartei der kurdischen PKK. Seit 2015 haben die YPG das Oberkommando über die SDF. Der Oberbefehlshaber der SDF, Ferhat Abdi Şahin alias Mazlum Kobanê, gehört selbst der PKK an, deren Exilfunktionär er von 1990 bis 2013 war, bevor er das Kommando über die 2011 gegründeten YPG übernahm. Mit der Gründung der SDF 2017 wurde er de facto militärischer Oberbefehlshaber in der Nordostprovinz.
Die im Norden stationierten Einheiten der SNA, die bis zur Machtübernahme in Damaskus der syrischen Übergangsregierung mit Sitz in A’zaz unterstanden, agieren derzeit in enger Abstimmung mit dem türkischen Militär. Strategisches Ziel ist es, einen 70 Kilometer langen und mindestens 30 Kilometer breiten Streifen entlang der syrisch-türkischen Grenze für die Türkei zu sichern, nach Möglichkeit die SDF zu entwaffnen und die militärischen Strukturen der YPG zu zerschlagen. Der türkische Truppenaufmarsch an der Grenze bei Kobanê und erste Scharmützel am Euphrat lassen erahnen, dass hier eine schwer kontrollierbare Eskalation droht.
Präventiv hat sich Mazlum Abdi an die Übergangsregierung in Damaskus gewandt und die Integration der SDF, also auch der YPG-Einheiten, in die syrische Armee angeboten. Offenbar sieht er in der syrischen Armee einen besseren Schutz vor den türkischen Streitkräften, als wenn die SDF weiterhin auf sich allein gestellt bleiben. Die Unterstützung der USA beschränkt sich auf Logistik, Nachschub und Aufklärung. Auch für die Türkei wäre eine Integration der SDF eine positive Entwicklung, sofern sie mit dem Zugeständnis einer Sicherheitszone bei Kobanê verbunden ist und die YPG nicht mehr als eigenständige militärische Kraft auftritt.
Einen Vollkrieg würde die Türkei aufgrund ihrer militärischen Stärke gewinnen, aber er wäre wahrscheinlich mit hohen Kosten verbunden. Eine vollständige Besetzung der Nordostprovinz kommt aber angesichts der militärischen Präsenz der USA nicht in Frage. Die Türkei könnte die beiden westlichen Kantone gewinnen, würde sich dann aber in einem permanenten Kriegszustand befinden. Dieser könnte sich dann schnell zu einem Grosskonflikt in Syrien ausweiten, zumal es noch weitere Streitpunkte im Verhältnis zwischen der Nordostprovinz und den neuen Machthabern in Damaskus gibt. Dabei geht es vor allem um die Frage, wer die Kontrolle über die rohstoffreiche Region Deir az-Zor, insbesondere über die dortigen Gas- und Ölfelder, sowie über die Wasserrechte am Euphrat ausüben kann.
Welche Zukunft?
Die Glaubwürdigkeit des neuen Regimes in Damaskus wird auch davon abhängen, ob Übergangspräsident al-Sharaa einen Autoritarismus nach dem Vorbild Erdogans etabliert und damit die Ordnung fortsetzt, die die HTS in Idlib errichtet hat, oder ob er hilft, eine repräsentative Ordnung aufzubauen, die der sozialen Realität und Logik der syrischen Gesellschaft entspricht. Eine Kopie des türkischen Etatismus würde für Syrien unweigerlich auf eine neue Diktatur hinauslaufen. Im Konflikt mit der autonomen Nordostprovinz und im Umgang mit den politischen Ansprüchen der entmachteten alawitischen Eliten wird sich erweisen, welcher Weg eingeschlagen wird.
Ein katastrophales Szenario für Syrien wäre eine Wiederholung der ägyptischen Erfahrungen 2011/13: national-religiöses Präsidialsystem mit schwachem Parlament, Massenproteste, Militärputsch per Notstandsrecht, persönliche Diktatur und zentralistische Ordnung eines absolutistischen Staates. Der Umbruch in Syrien muss, um nachhaltig erfolgreich zu sein, den Wiederaufbau der Gesellschaft als solidarische, partizipative Ordnung des Gemeinsinns zur Legitimationsgrundlage staatlicher Gewalt machen. Nur so kann ein neuer Autoritarismus verhindert werden.
Der erste Teil dieses Beitrags ist am 27. Dezember erschienen.