Einen Monat nach Beginn der Offensive der Milizen der Organisation für die Befreiung der Levante gegen regimetreue Truppen westlich von Aleppo, die elf Tage später zur Implosion des Baath-Regimes von al-Asad führte, kann eine erste vorsichtige Bilanz gezogen werden.
Das politische Programm, das den Umbruch in Syrien kennzeichnet, ist vor allem vom institutionellen Aspekt der Staatsmacht bestimmt, die zurzeit durch den Kommandanten Ahmad al-Sharaa, früher Abu Muhammad al-Jaulani, verkörpert ist. Sein Augenmerk auf die Institutionen hatte er bereits in Aleppo kurz nach der Einnahme der Stadt betont. Dabei wiederholte er Aussagen, mit denen er die Aktivitäten der früheren Heils-Regierung der HTS in Idlib zu rechtfertigen versuchte.
Ein völlig neuer Staat
Für al-Sharaa ist der Wiederaufbau des syrischen Staates in der Tat vor allem ein institutioneller Prozess. Und dieser erfordere es, auch nach dem Umbruch mit den bestehenden Institutionen zu arbeiten. Als die HTS zusammen mit Einheiten der Syrischen Nationalarmee und der «Operationszone Süd», die bei der Einnahme von Damaskus eine besonders wichtige Rolle spielte, die staatlichen Institutionen in der Stadt übernahmen, ging es vor allem darum, die Wasserversorgung und das Funktionieren der Kanalisation aufrechtzuerhalten, die Stromversorgung zu sichern und die Transportinfrastruktur für die Märkte zu stabilisieren. Nach der Eroberung Aleppos verkündeten die HTS-Kommandeure, dass Aleppo nun länger Strom habe, als es unter Asad jemals der Fall gewesen sei.
Dieser institutionelle Versorgungsaspekt steht für das neue Regime derzeit so sehr im Vordergrund, dass es auch mit den bestehenden Institutionen operieren muss und will. Die Verwaltungsangestellten wurden bereits am zweiten Tag aufgefordert, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Interimspremier Muhammad al-Bashir wies allerdings darauf hin, dass damit auch die Beschäftigungsstruktur des alten Regimes übernommen werden müsse. Und diese war dadurch gekennzeichnet, dass ein Grossteil der Staatsbeamten, vor allem der Teil, der sich der Baath-Partei zugehörig fühlte, nur nominell angestellt war. Sie erhielten zwar ihr Gehalt, ohne selbst wirklich tätig zu sein. Dafür hatten sie aber direkten Zugang zur Schattenwirtschaft des Regimes. Dies verstärkte ihre Bindung an die alte Ordnung.
Gleichzeitig musste sich der Staat auch institutionell neu aufstellen. Der Einbezug und teilweise Umbau bestehender Institutionen ist einer der entscheidenden Bausteine bei der Rekonstruktion des Staates. Daneben dürfte die Rechtsverfassung eine zentrale Rolle spielen. Al-Sharaa verweist immer wieder auf die Rolle der Justiz.
Was er aber bisher nicht angesprochen hat, ist die Bedeutung der Legislative und damit die Frage, wie die Rechtsetzung in Zukunft erfolgen soll. Wenn al-Sharaa eine ähnliche Ordnung wie in Idlib vorschwebt, dann wird er von einem bestehenden Rechtskanon ausgehen, der von Juristen im Sinne einer Normenkontrolle verwaltet wird. Gleichzeitig hat er aber die Dringlichkeit eines Verfassungsprozesses betont, der den rechtlichen Rahmen definieren soll. Dies sei ein Schlüsselprozess für die politische Ordnung des neuen Syriens.
Das Recht als Grundlage
Al-Sharaa betonte, dass die Staatsgewalt nicht durch eine Person, sondern durch das Recht repräsentiert werden müsse. Damit reagierte er wohl auch auf die Erfahrung vieler Flüchtlinge, die in Europa jene politischen Freiheiten und Formen der Rechtssicherheit genossen haben, die ihnen in ihrem Heimatland jahrzehntelang verwehrt geblieben waren. Nun, da soziale und politische Kontakte der Flüchtlinge zu ihren Familien und Freunden in Syrien wieder möglich sind, wird es auch einen Zustrom von Erwartungen an bürgerliche Freiheiten geben, auf die das neue Regime reagieren muss.
Diese Erwartungen werden auch den Verfassungsprozess prägen. Den Auftakt soll ein Nationalkongress bilden, der für März nächsten Jahres geplant ist. Al-Sharaa betont, dass der Prozess nicht von einer ideologischen Ordnung bestimmt werden dürfe, sondern von unten nach oben aufgebaut sein müsse. Dabei sollten die sozialen und politischen Erfahrungen Syriens und seine kulturellen Traditionen eine wesentliche Rolle spielen. Allein dies unterscheide den Prozess grundlegend von dem, der zur Herrschaft der Taliban in Afghanistan geführt habe. Ohne den Begriff zu verwenden, kritisierte er die Taliban als islamische Ethnonationalisten. Eine solche Haltung widerspreche jedoch fundamental der syrischen Erfahrung.
Anbindung an den Westen?
Die neue politische Führung in Damaskus löst sich aus der fast 80-jährigen Bindung an den Osten, zunächst an die UdSSR, dann an Russland. Diese bildete jahrzehntelang den Legitimationsrahmen für das zentralistische, ideologische Einparteien- und Führerregime. Die Baath-Partei, die über zwei Generationen die Staats- und Gesellschaftsordnung bestimmte, monopolisierte diesen Rahmen. Ihr Staatsnationalismus, der früher in Anlehnung an die sowjetische Staatsideologie als «links» gelesen wurde und heute im politischen Umfeld des «Anti-Imperialismus» immer noch so interpretiert wird, war die Quelle jener totalitären Ordnung, die das Baath-Regime geschaffen hatte und die nun implodiert ist.
Jetzt eröffnet sich für Syrien die Chance einer neuen Westbindung. Dies setzt allerdings eine Neuinterpretation dessen voraus, was unter «Westen» zu verstehen ist. Das «Westliche», das zeigen schon jetzt die Debatten um die Zukunft Syriens, darf kein Privileg der westlichen Welt sein, sondern muss gewissermassen aus der lokalen und regionalen Erfahrung vor Ort neu gewonnen und sinnstiftend angeeignet werden. Dies stellt eine grosse Herausforderung für die staatlichen und lokalen Institutionen dar, die aufgrund der jahrzehntelangen «sowjetischen» Kultur auch ein neues Selbstverständnis finden müssen. In den vergangenen 13 Konflikt- und Kriegsjahren sind diese Institutionen immer mehr zu Organen lokaler Partikularinteressen geworden, die nun wieder zu einem Gemeinsinn zusammenfinden müssen. Ein gewaltiger Schritt, der nun auch die Politik herausfordert.
Widerherstellung des staatlichen Gewaltmonopols
Bei der Besetzung regionaler Führungspositionen kann das neue Regime nicht nur Gesinnungsfreunde des al-Sharaa-Flügels in der HTS bevorzugen. In Latakia wurde ein Militärkommandeur zum Gouverneur ernannt, der als Scharfmacher und Hardliner gilt und sich mit Vorliebe mit Waffen schmückt. Ob er wie al-Sharaa eine zivile Rolle spielen kann, ist fraglich. Auch Al-Sharaa muss der Pluralität seiner Klientel Rechnung tragen. Wenn nun, wie angekündigt, die Verbände der HTS und alle anderen Milizen – vielleicht mit Ausnahme derer in der Nordostprovinz – aufgelöst und die Kämpfer, soweit sie nicht demobilisiert werden, in die Armee eingegliedert werden, wäre auch das Gespenst einer Militarisierung der Provinzverwaltung durch lokale Milizen vom Tisch.
Die neue Führung legt besonderen Wert auf die Wiederherstellung des staatlichen Gewaltmonopols. Die Armee soll eine Freiwilligenarmee werden. Allerdings dürfte auch der neuen Führung bewusst sein, dass die Armee in Syrien eine der Quellen der diktatorischen Regime war, die seit 1953 zunächst vorübergehend und ab 1961 dauerhaft die politische Macht ausübten. Um Militärputsche in Zukunft zu verhindern, müsste das Militär daher unter parlamentarische Kontrolle gestellt werden. Um eine Entwicklung wie in Ägypten zu verhindern, müsste zudem die Kompetenz zur Ausrufung des Notstands von der Position des Präsidenten entkoppelt werden.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Diskussionen um entsprechende Verfassungsgrundsätze nicht einfach werden. Aber der Wunsch nach einer möglichst klaren Abkehr von der alten totalitären Ordnung des Baath-Systems ist so stark, dass er manche Unebenheiten im System und manche Risse in der Gesellschaft, die sich jetzt auftun, in Kauf nimmt. Der Neuanfang lag in den ersten Tagen in den Händen der Verwaltungselite von Idlib. Die meisten der eingesetzten Verwaltungsbeamten auf höherer Ebene, die jetzt das Regime stützen, kommen aus Idlib. Das heisst, der politische Kontext in Idlib war zunächst entscheidend für den Wiederaufbau der staatlichen Ordnung. Aber jetzt kommen immer mehr Leute auch aus den anderen drei grossen Widerstandsbündnissen, und vor allem die Akteure aus dem Süden rücken ins Zentrum der politischen Macht. Damit beginnt sich eine gewisse Pluralität im politischen Feld abzuzeichnen, die stark mit der Verfasstheit der syrischen Gesellschaft korreliert.
Systemwechsel beim Staatsaufbau: Kommunalismus
Al-Sharaa, der immer wieder auf die gesellschaftlichen Besonderheiten Syriens verweist, muss bei jeder politischen Planung berücksichtigen, dass Syrien auf einer sehr filigranen kommunalen Organisation der Gesellschaft beruht. Neben den 16 Gross- und Mittelstädten und ihren Stadtvierteln gibt es fast 6’000 Kleinstädte und Dörfer, die über gewohnheitsrechtlich organisierte soziale Formen der Kommunalverfassung verfügen und ein hohes Mass an lokaler Identität durch Konfessionen, Sprachen, Abstammungslinien, Schichten, Milieus und Allianzen aufweisen. Ein Staatsbildungsprozess, der nicht auf einer zentralistischen Militär- und/oder Parteiendiktatur beruht, müsste also die Pluralität in einer syrischen Repräsentationsordnung berücksichtigen. Dies zeigt: Es geht nicht nur um einen politischen Wandel, sondern um einen Systemwechsel.
Dieser Kommunalismus, der durch den Krieg in Syrien noch massiv verstärkt wird, dürfte so im Verfassungsprozess eine Rolle spielen. Hier gibt es eine gewisse Konvergenz zur kantonalen Verfassung der autonomen Nordostprovinz. Nicht wenige Politiker im Nordosten plädieren dafür, die dort etablierte kommunale Staatsverfassung auf ganz Syrien zu übertragen. Dies würde einen Mentalitätswandel der Staatseliten voraussetzen, der zugleich die ideologischen Fixierungen der Baath-Partei beseitigen müsste. Syrien würde dann andere Wege gehen als der Irak nach dem Bürgerkrieg 2004–2008.
Gefährdete Subsidiarität
Die anzustrebende Repräsentationsordnung müsste inklusiv sein. Jüngste Äusserungen der Führung in Damaskus lassen jedoch befürchten, dass der eigentlich gewünschte Staatsaufbau – Repräsentation des Volks durch eine Ordnung abgestufter Subsidiarität und Bündelung kommunaler Repräsentationen in «Kantonen» oder «Regionen» – scheitern könnte. Dies würde das politische System erneut der Gefahr der Hegemonie einer ethnischen oder konfessionellen Gemeinschaft oder eines bestimmten sozio-moralischen Milieus aussetzen. Regionalisierung und Kantonalisierung hingegen schwächen die Bedeutung einer Ordnung nach Mehrheiten und Minderheiten, da jede national verstandene «Minderheit» in einer politischen Körperschaft die Mehrheit bildet. Hier drängen sich die schweizerischen Erfahrungen auf.
Die Länder der syrischen Levante, die «bilād al-Shām» (auch verstanden als die «Nordländer»), umfassen selbst eine Vielzahl von Gemeinden und Gemeinschaften. Die französische Kolonialverwaltung hatte ihnen eine administrative Funktion zugewiesen, die zu einer politischen Identität wurde. In der alten republikanischen Flagge der Rebellen spiegelte sich dies in den drei Sternen wider. Als die Flagge 1930 entworfen wurde, standen die drei Sterne für Damaskus, Aleppo und Deir az-Zor. 1936 kamen die Provinzen Latakia (Alawiten) und Dschebel al-Scheich (Drusen) hinzu. Anstatt die Anzahl der Sterne auf fünf zu erhöhen, wurden die drei Länder Damaskus, Aleppo und Deir az-Zor unter einem Stern zusammengefasst. Die beiden anderen Sterne repräsentierten nun die alawitischen und drusischen Gebiete. In dieser kolonialen Ordnung spielten die Kurden, Turkmenen, Ismailiten, Chaldäer und aramäischen Christen keine nationale Rolle. Da sie keine politischen Einheiten waren, fiel dies zunächst nicht besonders ins Gewicht.
Dennoch wurden die vier kurdischen Siedlungsgebiete im Norden als Teil Syriens betrachtet. Die Forderung nach Autonomie, die bereits in den 1930er Jahren erhoben wurde, gewinnt knapp hundert Jahre später neue Aktualität. Die zwischen 2013 und 2016 geschaffene Autonome Nordostprovinz (ANOP), die von den vier ethnischen Gemeinschaften der Kurden, Araber, Assyrer (Chaldäer) und Turkmenen geprägt ist, wird sicherlich versuchen, ihre politische Selbstorganisation gegen Hegemoniebestrebungen aus dem Süden zu verteidigen. Anders als die Technokratenregierung der alten Heilsregierung von Idlib verfügt die ANOP über eine weitgehend intakte politische Repräsentationsordnung, die in Form einer bunten Parteienlandschaft ein hohes Mass an Partizipation gewährleistet.
Im zweiten Teil dieses Hintergrundberichts zeigt Reinhard Schulze die riesigen Anforderungen einer Überwindung des Baathismus. Den Übergangspräsidenten al-Sharaa stellt er in einer biographischen Skizze vor. Zum Schluss wirft er einen Blick auf den unruhigen Nordosten Syriens, der für das Gelingen eines Neustarts zum Stolperstein werden kann. Der Schluss des Berichts erscheint am 28. Dezember 2024.