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Kommentar 21

Du sollst nicht demütigen

13. Juni 2024
Stephan Wehowsky
Abtransport
Augen verbunden, gefesselt, halbnackt: Abtransport palästinensischer Gefangener am 8. Dezember 2023 in Gaza (Keystone/AP Photo/Moti Milrod, Haaretz, File)

Internationale Medien wie die New York Times, CNN, BBC, Haaretz, aber auch das Deutsche Fernsehen berichten über die Misshandlung palästinensischer Gefangener durch israelische Soldaten und das Wachpersonal in Lagern und Gefängnissen. «Der Spiegel» hat daraus und aus eigenen Recherchen in seiner Ausgabe vom 7. Juni 2024 Details veröffentlicht, die man nicht zur Kenntnis nehmen kann, ohne sich zutiefst zu schämen.

Es sind nicht nur die üblichen Grobheiten, die in einem Krieg wie dem nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 wohl unausweichlich sind. Und man wird sicher nicht erwarten können, dass die Versorgung von Gefangenen in einem Chaos, das eher dem eines Bürgerkrieges als dem eines regulären Krieges ähnelt, jederzeit den kriegsrechtlich festgelegten Normen entspricht. Das alles sei zugestanden.

Aber die Schilderungen der Gefangenen beziehen sich nicht nur auf schlechte Unterbringung und Versorgung. Sie berichten von Quälereien durch Fesselungen, die Wunden verursachen, die jeden Betrachter schaudern machen. Dazu kommt das Zusammenpferchen auf engstem Raum ohne jede Hygiene. Und als wäre das alles noch nicht genug, kommt es zu sexuellen Vergehen, die sich ein normaler Mensch selbst in seinen tiefsten Nachtseiten nicht vorstellen kann. Ein junger Palästinenser sprach davon, dass ihm unter diesen Torturen seine Männlichkeit genommen worden sei.

Gute Gründe zum Streit um Methoden

Diese Berichte sind so genau belegt und durch weltweit anerkannte Medien geprüft und beglaubigt, dass man sie nicht als Propaganda abtun kann. Als Fakten sind sie unabweisbar, und man kann auch nicht so tun, als handele es sich um marginale Einzelfälle. Das Bildmaterial und die Zeugenaussagen deuten darauf hin, dass es sich um weit verbreitete Praktiken handelt.

Damit bekommt die israelische Kriegführung in Gaza eine andere Färbung. Man konnte und kann mit guten Gründen über die Rechtfertigung der kriegerischen Methoden streiten. Dass die Hamas planmässig Zivilisten als Schutzschilde benutzt, mag rechtfertigen, dass die israelische Armee auf sie nur wenig Rücksicht nimmt. Und dass die Hamas Israel vernichten will und dafür mit dem 7. Oktober einen grauenhaften Vorgeschmack geliefert hat, mag rechtfertigen, dass die jetzige Führung in Israel ihr ganzes Streben auf ihre Vernichtung richtet. Wer sich in diesen verzweifelten Auseinandersetzungen und Fragen beruhigt zurücklehnen kann, ist um seine Indolenz zu beneiden.

Aber die Art und Weise, wie mit den palästinensischen Gefangenen umgegangen wird, wirft auf diese schwierige Auseinandersetzung ein grelles irritierendes Licht. Drückt sich im Umgang mit den Gefangenen eine Haltung aus, die auf einer tief verwurzelten Missachtung der Palästinenser beruht? Stimmt etwas nicht in der politischen Ethik?

Die Würde des Staates

Der international renommierte israelische Philosoph Avishai Margalit, der an der hebräischen Universität in Jerusalem lehrt, hat 1996 ein Buch, «The Decent Society», herausgebracht, das 1997 auf Deutsch unter dem Titel, «Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung», erschien. Darin ging es ihm in sehr sorgfältigen Analysen darum zu zeigen, warum jeder Mensch Anspruch darauf hat, in seiner Würde respektiert zu werden. 

Der Holocaust ist für ihn der absolute Nullpunkt der Entwürdigung – nicht nur der Opfer, sondern auch der Täter. Die Würde eines Staates mit seinen Institutionen bemisst sich für ihn daran, inwieweit er mit seinen Institutionen und mit seinen Regeln den Individuen jene Achtung erweisen kann, die ihnen gebührt. Daraus ergibt sich für ihn das Gebot, dass kein Staat, keine Institution und kein Individuum einzelne Menschen oder Gruppen demütigen darf.

Wieder und wieder hat er sich kritisch zu der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern geäussert. Kann ein Staat für sich Würde beanspruchen, wenn er einer grossen Population die Achtung versagt, die diese mit Recht beansprucht? – Das sind sehr hohe theoretische Überlegungen. Aber die Solidarität mit Israel leidet darunter, dass die israelische Politik oder ihre Rhetorik den Eindruck erweckt, dass die Palästinenser für sie kein Thema im Sinne von Margalits Frage nach Achtung und Verachtung sind. Damit aber droht Israel, seine Würde zu verlieren.

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