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Kommentar 21

Die Ukraine ist nicht verloren

26. November 2025
Reinhard Meier
Reinhard Meier
Selenskyj, Soldaten, Front
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj (rechts) beim Besuch eines militärischen Frontpostens bei Donezk Anfang November (Foto: UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS SERVICE)

Im Verhandlungswirbel um den Ukraine-Krieg zeichnen sich positive und negative Perspektiven ab. Es bleibt schwer akzeptabel, wenn der Aggressor Putin durch Territorialgewinne belohnt wird. Aber die Ukraine hat eine reale Chance, als selbständiger Staat zu überleben. Putin kann sein kardinales Kriegsziel, die Ukraine als Satellitenstaat zu kontrollieren, nicht durchsetzen.

Zunächst tönt es zwar wie ein schlechter Scherz, wenn es in Punkt eins des 28-Punkte-Papiers, das die USA in der vergangenen Woche als Ausgangspunkt für ein Friedensabkommen zum Ukraine-Krieg vorgelegt haben, heisst: «Die Souveränität der Ukraine wird bestätigt». Was soll das für eine Souveränität sein, wenn von diesem Land gleichzeitig Gebietsabtretungen an den Aggressor Russland, die Reduzierung seiner Armee und der Verzicht auf Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis Nato verlangt werden?

Ende des Kriegsterrors und EU-Beitritts-Perspektive 

Aber auf der anderen Seite versprechen die laufenden Konsultationen, die Washington mit Putin-Vertrauten einerseits sowie mit Kiew und seinen europäischen Verbündeten andererseits angestossen hat, für die Ukraine auch eine Reihe erstrebenswerter Entwicklungen. Da ist zunächst die Aussicht auf ein Ende des mörderischen Krieges, den Russland seit mehr als dreieinhalb Jahren gegen sein Nachbarland betreibt. Zwar dürfte die Mehrheit der Ukrainer mit hoher Wahrscheinlichkeit entschlossen sein, die zähe Verteidigung gegen den russischen Aggressor fortzusetzen, wenn dieser zu keinem Waffenstillstand bereit ist. Doch ebenso gibt es wenig Zweifel, dass die meisten Bürger ein Ende des täglichen Kriegsterrors sehnlichst herbeiwünschen. 

Zudem spricht das Diskussionspapier, das die USA in Konsultation mit Kreml-Abgesandten vorgelegt haben, auch von Möglichkeiten, die für die Ukraine vorteilhaft bewertet werden können. Zu nennen ist in diesem Kontext die Perspektive eines EU-Beitritts, den Moskau laut dem Papier akzeptieren würde. In früheren Phasen des Ukraine-Konflikts hatte Putin eine solche Entwicklung noch vehement bekämpft. Weiter ist für den Fall eines Friedensabkommens von «zuverlässigen Sicherheitsgarantien» für die Ukraine die Rede. Diese sind vorläufig nicht präzis geklärt und Skepsis ist angebracht. Schliesslich haben einige Westmächte zusammen mit Moskau schon im berüchtigten Budapester Memorandum von 1994 gegenüber der Ukraine Sicherheitsversprechungen festgeschrieben. Putin hat das nicht von seinem flagranten Überfall abgehalten.

Hararis scharfsichtige Analyse

Doch bei aller Unsicherheit und Ambivalenz der laufenden Verhandlungen über ein mögliches Friedensabkommen bleibt ein fundamentaler Aspekt festzuhalten: Putin wird sein ursprüngliches Kriegsziel, in Kiew einzumarschieren, dort eine Marionettenregierung zu etablieren und die Ukraine wie in sowjetischen Zeiten als Moskauer Satellitengebilde zu kontrollieren, nicht durchsetzen können. Darauf hat schon Ende September der renommierte israelische Historiker Yuval Noah Harari in einem Essay für die «Financial Times» verwiesen. 

«Den Krieg gewinnt nicht die Seite, die mehr Land gewinnt, mehr Städte zerstört oder mehr Menschen tötet», schrieb Harari. «Den Krieg gewinnt jene Seite, die ihre politischen Ziele durchsetzt. Und in der Ukraine ist bereits klar geworden, dass Putin sein hauptsächliches Kriegsziel, die Zerstörung der ukrainischen Nation, verfehlt hat.» Der Historiker nimmt in seiner Argumentation Bezug auf Putins damals vielzitierten langen Aufsatz vom Juli 2021 mit dem Titel «Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern». Nach dessen Ansicht handelt sich beim ukrainischen Anspruch auf eine eigene Nation um eine Illusion und eine falsche Konstruktion. 

Der tiefste Grund für Putin, so Harari weiter, den Krieg gegen das Nachbarland zu entfesseln, sei es, der Welt zu beweisen, dass eine ukrainische Nation gar nicht existiere, «dass die Ukrainer eigentlich Russen sind und sich bei der nächsten Gelegenheit jubelnd von Mütterchen Russland absorbieren lassen». 

Gefestigte ukrainische Identität

Wesentliche Fakten sprechen für diese scharfsichtige Analyse des Historikers. Niemand kann im Ernst bestreiten, dass Putin durch seinen Angriffskrieg die Ukrainer enger zusammengeschweisst hat als je zuvor. Die ukrainische Identität mag zu Beginn der Staatsgründung vor 35 Jahren noch fragil und teilweise umstritten gewesen sein. Heute ist sie ungleich stärker gefestigt, sie definiert sich angesichts der Aggression Moskaus in erster Linie als Gegenbild zu Russland. 

Zum ukrainischen Selbstbewusstsein dürfte auch die im Ganzen bewundernswerte Zähigkeit des Abwehrkampfes gegen einen zahlenmässig und ressourcenmässig klar überlegenen Angreifer beitragen. Mit dieser Widerstandskraft hatten zu Beginn des russischen Überfalls die wenigsten Beobachter – und schon gar nicht der Angreifer Putin – gerechnet. In bald vier Kriegsjahren haben die russischen Streitkräfte erst 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobern können. Sollte es in diesem Tempo weitergehen, müssten Moskaus Truppen weitere 16 Jahre weiterkämpfen. Ob das in der russischen Gesellschaft durchzuhalten und ob Putin dann überhaupt noch an der Macht wäre, erscheint sehr zweifelhaft. 

Risiken auch für Putin

Gewiss ist im Moment noch völlig ungeklärt, ob Putin überhaupt eine Friedenslösung, wie sie in der amerikanischen 28-Punkte-Skizze, die inzwischen auf 19 Punkte «entschärft» sein soll, überhaupt in den Grundzügen akzeptieren wird. Allerdings steht neben der Ukraine auch die russische Seite unter einem gewissen Druck, darauf konstruktiv einzugehen. Tut sie das nicht, riskiert sie, Trump vor den Kopf zu stossen. Das könnte ihn wiederum zu einer härteren Haltung gegenüber dem Kreml provozieren, um der Ukraine endlich jene Langstrecken-Geschosse wie die Tomahawk-Marschflugkörper zur Verfügung zu stellen, die sie seit langem begehrt. 

Doch angenommen, es kommt tatsächlich ein Friedensschluss in Richtung des jetzt diskutierten US-19-Punkte-Papiers zustande, dann hat die Ukraine trotz schmerzhafter territorialer Einbussen und Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft immer noch konkrete Möglichkeiten, als selbstständiger Staat weiter zu existieren und in absehbarer Frist als EU-Mitglied aufgenommen zu werden. Die engen Beziehungen zum Westen könnten weiterentwickelt werden. Bei einigermassen überzeugend formulierten Sicherheitsgarantien müsste Putin seinen Traum von einer neuen Unterwerfung der Ukraine begraben. 

Finnland als Inspiration?

Allenfalls könnte die jüngere Geschichte Finnlands als Inspiration für eine derartige Friedenslösung dienen. Das nordische Land hatte im Winterkrieg von 1939/40 ebenfalls zähen Wiederstand gegen Stalins Gebietsansprüche und seinen militärischen Überfall geleistet. Doch schliesslich musste es sich der russischen Übermacht beugen und zur Rettung seiner staatlichen Eigenständigkeit bedeutende territoriale Verluste akzeptieren. Solange das Sowjetimperium existierte, galt Finnlands Unabhängigkeit gegenüber dem russischen Nachbarn zwar als potentiell gefährdet, doch sie blieb dank Helsinkis geschickter Balancepolitik intakt. Nach Putins Ukraine-Überfall haben Finnland und das bisher neutrale Schweden die Konsequenzen gezogen. Beide Länder sind heute Vollmitglieder der Nato. 

Niemand kann mit Sicherheit die Zukunft der Ukraine voraussehen. Aber ihr bald vierjähriger heroischer Abwehrkampf gegen die russische Übermacht berechtigt zu der Hoffnung, dass dieses Land trotz bitteren Gebietsverlusten bessere Aussichten für eine selbstbestimmte Entwicklung in den kommenden Jahren hat, als Putin und seine Propagandisten sowie pessimistische Auguren im Westen dies wahrhaben wollen. 

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