Steht er’s durch oder gibt er auf? Hält er den sich täglich steigernden Druck aus oder glaubt er weiterhin an sich? Es geht natürlich um Olaf Scholz, den sozialdemokratischen deutschen Noch-Bundeskanzler.
Zwar hat am Donnerstagabend sein möglicher parteiinterner Herausforderer oder Ersatzmann, Boris Pistorius, erklärt, er stehe für eine Kanzlerkandidatur nicht zur Verfügung. Doch damit dürfte das letzte Wort um Scholz’ Rolle im bevorstehenden Bundestagswahlkampf noch nicht gesprochen sein.
Olaf Scholz hat vor wenigen Wochen, am 6. November, dem «Tag des Zorns», den von ihm als immer mehr quertreibend empfundenen liberalen Koalitionspartner mit dessen Chef, Christian Lindner, voran aus der Bundesregierung geschmissen. Und steht seitdem vor dem Scherbenhaufen der von ihm zu verantwortenden Politik.
Die in der Öffentlichkeit immer lauter gestellte und daher von der SPD-Führung nicht mehr zu übergehende Frage lautet daher: Werden die Sozialdemokraten noch einmal mit Scholz als Kanzlerkandidaten in die Schlacht um die Stimmen der Bürger bei den für den 23. Februar nächsten Jahres anberaumten Neuwahlen zum nächsten Bundestag ziehen?
Neuer Name mit neuem Gesicht
Oder glauben sie, ein anderer Name mit einem anderen Gesicht hätte grössere Chancen, die im dunklen Umfragetief steckenden Genossen doch noch in ein freundlicheres Licht zu führen? Erfolgt aus der Partei heraus ein Dolchstoss gegen Scholz? Oder üben die Sozis (wie Helmut Schmidt von seinen Parteifreunden zu sprechen pflegte) Nibelungentreue gegenüber dem Kanzler?
Die Frage nach einem «anderen Namen» ist leicht zu beantworten. Der Mann heisst Boris Pistorius, ist 64 Jahre alt und seit Januar 2023 Bundesminister der Verteidigung. Er ist seit Monaten die Nummer eins im Ranking der beliebtesten deutschen Politiker. Scholz, immerhin Bundeskanzler und Regierungschef, rangiert dagegen auf derselben Liste und praktisch ebenso lang im unteren bis untersten Bereich. Dem Mann von der Elbe wird unter anderem angekreidet, dass er das immer desolater und zerstrittener werdende Erscheinungsbild des einmal als «Koalition des Fortschritts» angetretenen sozialdemokratisch-grün-liberale Bündnisses zugelassen und nicht rechtzeitig mit einem Machtwort «für Ordnung» gesorgt zu haben.
Gespielte Ruhe und Gelassenheit
Scholz versucht nach aussen hin, Ruhe und Gelassenheit auszustrahlen. So flog er zum jüngsten Gipfeltreffen der G-20-Staaten nach Rio, obwohl er ja als inzwischen machtloser Minderheiten-Kanzler keinerlei bindende Aussagen mehr machen konnte. Was daheim freilich die Kanzlerkandidatur-Debatte nur anheizte. Dass sich da etwas zusammenbraute, musste er allerdings schon gemerkt haben. Immerhin sagte er den für «nach Rio» vereinbarten Anschluss-Besuch in Mexiko kurzfristig ab. Sehr zum Ärger der stolzen Mexikaner.
Manche Medien zwischen Rhein und Oder sprechen bereits von einem «Machtkampf» an der SPD-Spitze. Aus anderen Kreisen raunen «informierte Quellen», es drohe eine «Palastrevolution», wenn die Parteispitze nicht schnellstens für personalpolitische Klarheit sorge. Wer den einstigen Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück, späteren Landesinnenminister von Niedersachsen und jetzigen deutschen Wehrminister kennt, ist davon überzeugt, dass der – Partei-«Soldat» durch und durch – sich niemals an einem Putsch beteiligen würde.
Dass ihm der Gedanke an einen Einzug ins Berliner Kanzleramt allerdings auch kein Unbehagen erzeugt, kann man durchaus aus der Antwort auf eine entsprechen Frage herauslesen, er schliesse «in der Politik überhaupt nichts aus». Doch daraus einen «Fehdehandschuh» gegen Scholz zu interpretieren, ist mehr als Kaffeesatz-Leserei.
«Entscheidung in Kürze»
Inzwischen hat die sozialdemokratische Parteispitze um SPD-Chef Lars Klingbeil angekündigt, es werde in der Kandidatenfrage «eine Entscheidung geben, und die wird sehr bald fallen». Klingbeil und seine Kollegin Saskia Esken gelten als Scholz-Unterstützer. Jedenfalls hielten sie diesem in der Vergangenheit unbeirrt die Stange. Das könnte dafürsprechen, dass sie alles dransetzen werden, bis zur Vorstandssitzung am kommenden Montag Geschlossenheit für den wackeligen Noch-Kanzler herbeizuführen. Freilich dürfte auch das politische Schicksal dieser beiden Personen vom Wohl oder Wehe abhängen, das sich am 23. Februar mit einem erneut antretenden Olaf Scholz ergibt.
Die Situation, in der die SPD – immerhin Deutschlands älteste und mit hohen Verdiensten geadelte Partei – nicht erst heute steckt, als «Dilemma» zu bezeichnen, ist deutlich untertrieben. Während sie in der Ära Willy Brandt, Helmut Schmidt, Prof. Karl Schiller, Verteidigungsminister Georg Leber und anderer Persönlichkeiten ähnlichen Kalibers deutlich über 40 Prozent an Wählerstimmen erreichte, ist sie mittlerweile auf weniger als 20 Prozent gerutscht. Und es drohen – die vergangenen Landtagswahlen weisen jedenfalls in die entsprechende Richtung – vielleicht noch weitere Abstürze.
Angst um den Job
Kein Wunder, dass es in unter den Genossen im Bundestag rumort. Die Möglichkeit ist nicht völlig ausgeschlossen, dass etwa die Hälfte der jetzigen Abgeordneten ihr Mandat und damit auch Hunderte von Angestellten ihren Job verlieren. Zudem bekommen die Deputierten Woche für Woche nach Rückkehr in ihre Wahlkreise den ganzen Unmut der Parteimitglieder über die Chaos-Koalition und deren Scheitern zu spüren. In der breiten Öffentlichkeit gibt es jedenfalls eine deutliche Mehrheit für Boris Pistorius. Und dadurch, entsprechend, auch eine Befürwortung in der SPD-Parlamentsfraktion.
Innerhalb des SPD-Bundesvorstands im Berliner Willy-Brandt-Haus, hingegen, möchte man auf Gedeih und Verderb daran festhalten, dass Olaf Scholz noch einmal in den Ring steigt. Hat er nicht mit dem energischen Lars Klingbeil (seinerzeit noch Generalsekretär und für den Wahlkampf zuständig) bei der vergangenen Bundestagswahl in einem fulminanten Endspurt noch einen schier unaufholbaren Rückstand von 16 Prozent gegenüber der CDU/CSU egalisiert?
Warum sollte das nicht wiederholbar sein? Freilich wissen Klingbeil und seine Mitstreiterinnen und -streiter, dass auch ihre politische Karriere auf dem Spiel steht. Das gilt nicht zuletzt für den ehrgeizigen Mann aus der niedersächsischen Heidestadt Soltau, dem – zu Unrecht? – höhere Ambitionen nachgesagt werden.
Die Karten neu mischen?
Am kommenden Montag trifft sich nun also in Berlin der SPD-Vorstand. Scholz wird nicht dabei sein, wohl aber Boris Pistorius. Spätestens bis dann soll, nach den Worten von Lars Klingbeil, die Kandidatenfrage geklärt sein, damit die wie Flammen flackernden Unruhen in der Partei totgetreten werden können. Oder sollten am Ende die Karten doch noch einmal neu gemischt oder (anderes Bild) die Pferde zu Beginn des Rennens noch ausgetauscht werden? Haben die Bürger (rund 70 Prozent der Bevölkerung pro Pistorius) ein besseres Gespür als die Polit-Profis, wem man die Gestaltung des Staates anvertrauen sollte? Würde es, im Falle eines Abrückens von Scholz, noch gelingen, die Wahlkampf-Schwerpunkte zu verändern.
Olaf Scholz möchte am liebsten die deutsche Dauer-Angst vor Krieg und eigenem politischen Engagement aufgreifen. Ob ihm dabei sein Telefonat mit Moskaus Kriegsherrn Wladimir Putin vor ein paar Tagen geholfen hat? Verteidigungsminister Pistorius ist ebenfalls ganz gewiss kein Kriegstreiber. Im Gegensatz zum Kanzler tritt er jedoch für eine noch wirkungsvollere deutsche Unterstützung der von Russland überfallenen Ukraine ein – auch für die Lieferung weitreichender Marschflugkörper sowie deren Einsatz auf Ziele im russischen Hinterland.
Olaf Scholz will am 15. Januar 2025 im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage stellen. Mit der Absicht, diese zu verlieren, damit der Bundespräsident danach innerhalb von 60 Tagen das augenblickliche Parlament auflösen kann, um die Neuwahlen am 23. Februar zu ermöglichen.
Deutschland steht also ein kurzer, aber vermutlich harter, vielleicht sogar schmutziger Wahlkampf bevor. Zumal die bei Umfragen getesteten Stimmungsbilder befürchten lassen, dass Rechtsextremisten wie die «Alternativ für Deutschland“ (AfD) oder andere Kräfte um die «Bewegung Sahra Wagenknecht» (BSW) mit Friedensschalmeien und uneinlösbaren Sozialversprechen weiterhin kräftig an Boden gewinnen. Die Neuwahlen und ihr Ergebnis versprechen auf jeden Fall zu einer Prüfung und Herausforderung für Deutschland zu werden.