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Kommentar 21

Die rätselhafte Schwäche des Christentums in Europa

13. November 2025
Stephan Wehowsky
Kruzifix
Ein Kruzifix in der Nähe von Dresden. In Europa ist das Christentum auf dem Rückzug. (Keystone/AP Photo/Matthias Rietschel)

Auch in diesem Jahr haben die Kirchen in Westeuropa wieder massiv an Mitgliedern eingebüsst, und die Gottesdienste werden immer weniger besucht. Nur wenn gerade ein Papst stirbt und ein neuer sein Amt antritt, flackert auf dem Petersplatz noch einmal etwas von dem auf, was an die frühere Frömmigkeit erinnert. Aber auch die Theologen reden heute lieber vom Diesseits als vom Jenseits. Ein Irrweg, meint Jürgen Habermas.

In einer eben erschienenen Festschrift für seinen Schüler Thomas Schmidt, Religionsphilosoph in Frankfurt, hat Jürgen Habermas Bedenken gegen die weitverbreitete Praxis der Kirchen geäussert, den Jenseitsglauben immer weiter abzuschwächen. Christliche Hoffnung beziehe sich demnach nicht mehr «auf die Glückseligkeit einer alles Innerweltliche transzendierenden Erfüllung», sondern nur noch auf ein besseres Leben im Diesseits. Werden die Kirchen damit ihrer Aufgabe gerecht?

Bedenken dieser Art bringen auch andere Kritiker vor. Auch sie stören sich daran, dass die Kirchen ihre Aufgabe zunehmend darin sehen, die christliche Botschaft in alltägliche Erwartungen von Glück und Zufriedenheit oder auch Toleranz und Friedensbereitschaft zu «übersetzen». Und die Gemeinden sind überwiegend zu Orten der Geselligkeit geworden. Aus der Transzendenz Gottes wurde Wellness.

Die Energie des Christentums

Dass gerade Jürgen Habermas die Kirchen davor warnt, den Jenseitsglauben zugunsten einer einfacheren «Verständlichkeit» zu opfern, hat eine besondere Pointe. Denn er hat sich in zahllosen akribischen Untersuchungen mit dem Verhältnis von Glauben und Wissen beschäftigt. In seinem Werk «Auch eine Geschichte der Philosophie» hat er auf 1’700 Seiten das über zweitausend Jahre andauernde Ringen der Philosophie mit der Theologie und der Theologie mit der Philosophie beschrieben. Bis in die jüngste Zeit hinein war die Theologie für die Philosophie ein ernsthafter Gesprächspartner. Vielleicht markiert die schnodderige Bemerkung von Peter Sloterdijk, Theologen seinen «nicht mehr satisfaktionsfähig», zumindest in Europa einen Endpunkt.

Die ungeheure Energie, die vom Christentum ausging, beschränkte sich nicht nur auf philosophische Debatten. Kirchliche Bauwerke, christliche oder vom Christentum inspirierte bildende Kunst, geistliche Musik oder auch Lyrik und Literatur haben nicht nur die Zeiten überdauert, sondern können bis heute zutiefst berühren – ganz ohne «Übersetzung». Sie alle vermittelten auf ihre Weise eine Ahnung von einer jenseitigen Welt voller Verheissungen. Das Christentum war eine Kraft, ohne die Europa nicht vorstellbar ist.

Diese Kraft hat sich verflüchtigt. Theologische Seminare gleichen «Geisterhäusern», wie die FAZ einmal schrieb, und Kirchengebäude werden umgewidmet oder bereits verkauft. Hat es die Kirche versäumt, sich genügend der Welt zu öffnen? Hätte die katholische Kirche den Zölibat abschaffen und mehr Frauen in geistliche Ämter berufen sollen? Jedoch zeigt das Beispiel der evangelischen Kirche, dass verheiratete Pfarrer und mehr Frauen in geistlichen Ämtern dem matten Glauben kaum neue Glut einhauchen. Aber da ist noch der moralische GAU des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der trifft die Kirchen ins Mark, denn sie verstehen sich in erster Linie als moralische Instanzen. Dass sie ausgerechnet auf dem Feld der Sexualität, für das sich insbesondere die katholische Kirche ganz besonders interessiert, derartig versagt, hätten ihr selbst die härtesten Gegner nicht zugetraut.

Öffentliche Diskurse

Dieses Versagen hat zu neuen Wellen von Kirchenaustritten geführt, aber es erklärt die Schwäche nur zum Teil. Denn trotz dieses Makels könnten integre Theologen immer noch an viel beachteten öffentlichen Diskursen teilnehmen, wie dies noch vor wenigen Jahrzehnten mit Hans Küng oder Hellmut Gollwitzer der Fall war. Einige Bücher von Hans Küng waren ebenso Bestseller wie von Heinz Zahrnt, Jörg Zink oder, schon sehr popularisiert, Margot Kässmann. Aber das ist lange her, und offenbar interessieren heute die Geheimnisse des christlichen Glaubens nicht mehr.

Es ist ein Rätsel, warum in einigen Ländern Westeuropas das Christentum jegliche Kraft verloren hat, während es in anderen Teilen der Welt an Stärke zunimmt. Lange Zeit haben Theologen versucht, diese Schwäche mit der Säkularisierung zu erklären: Die Dominanz von Wissenschaft und Technik vertrage sich nicht mit dem vormodernen christlichen Glauben. Nicht nur in Amerika kann man lernen, dass dies sehr wohl der Fall ist, auch wenn die fundamentalistischen Ausprägungen mancher Strömungen den Europäern die Haare zu Berge stehen lassen. Aber Power haben sie.

Jürgen Habermas hat vollkommen recht, wenn er Zweifel daran anmeldet, dass sich das Christentum retten kann, wenn es auf die säkulare Karte setzt. Aber seine Empfehlung an die Theologen, statt dessen die «Verheissungen Gottes» ernst zu nehmen und es zu wagen, auch heute noch von der Auferstehung der Toten zu sprechen, stellt sie vor eine Aufgabe, der sich im Zeichen von Europas schicksalhaftem Schwund der Kraft des Christentums nur die wenigsten Theologen gewachsen fühlen dürften.

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