Die Entfremdung zwischen den USA und Europa reicht noch weiter, als das Auftreten Trumps vermuten lässt. Er ist ein Protagonist, der die Zuschauer ebenso amüsiert wie schockiert. Aber dahinter liegen weitaus tiefere Verwerfungen.
Der amerikanische Verteidigungsminister Pete Hegseth ist über und über tätowiert. Auf der Innenseite des rechten Unterarms steht ein Schwert, das von einem Kreuz umfasst wird. Dort ist «Deus Vult» zu lesen. «Deus vult» oder «Deus lo vult» lautete der Schlachtruf, den die zum Krieg bereite Menschenmenge skandiert haben soll, nachdem Papst Urban II. im November 1095 auf der Synode von Clermont zum Ersten Kreuzzug aufgerufen hatte.
Hegseth hat gerade sämtliche Generäle der amerikanischen Armee weltweit zusammenrufen lassen, um sie auf seinen neuen Kriegskurs einzuschwören. Donald Trump nutzte diese Gelegenheit, um sich hinter seinen «Kriegsminister», wie er jetzt genannt wird, zu stellen und zu betonen, dass die Armee von nun an bürgerliches Recht schlicht und einfach zu ignorieren habe.
Schockwellen
Das ist nur der jüngste Schock in einer Reihe von Schockwellen, die seit dem erneuten Amtsantritt von Donald Trump über den Atlantik rollen. Europäische Politiker reagieren darauf immer noch so, dass sie jeden dieser Schocks irgendwie zu verstehen und abzufedern suchen: Der Aufkündigung des militärischen Schutzes im Rahmen der Nato wird mit höheren Verteidigungsausgaben begegnet, die Zollpolitik wird durch Schmeicheleien und Einzelfallregelungen abgefedert und die völlig erratische Aussenpolitik wird in ihrer Gefahr verniedlicht, indem man sie wie ein Theaterstück über sich ergehen lässt.
Dabei wird die Frage kaum gestellt, ob nicht hinter diesen Schockwellen weitaus mehr steckt als ein erratischer Präsident. Auch hat der Vizepräsident J. D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2025 den Europäern keinen Hinweis darauf gegeben, als er ihnen klar gemacht hat, dass es keinen direkten Draht mehr zwischen Amerika und ihnen gibt. Heute muss man sagen: Nicht nur ist dieser Draht zerrissen. Vielmehr ist der gemeinsame Code von Amerika und Europa zerbrochen.
Einigende Vernunft
Dieser Code bestand in felsenfesten gemeinsamen Überzeugungen, die ihre Wurzeln in der europäischen Aufklärung haben. Im Zuge der Aufklärung hatte sich die Vernunft nach und nach zum Leitmedium der Gesellschaft gemacht. Sie stellte eine Art Gerichtshof dar, vor dem Entscheidungen «rational» verantwortet werden mussten. Es war diese Vernunft, die Europäer und Amerikaner einte und die darüber hinaus internationale Ordnungen wie das Völkerrecht schuf.
Ein erster Angriff darauf erfolgte während der ersten Amtszeit Trumps mit seinen Parolen der Fake News und der «alternativen Fakten». Aus europäischer Sicht konnte man hoffen, dass es sich um eine Marotte eines Präsidenten und seiner Entourage handelt, die bei den nächsten Wahlen hoffentlich in der Versenkung verschwinden würden. Aber das Insistieren Trumps auf der falschen Behauptung vom Wahlbetrug und der Sturm auf das Kapitol erwiesen, dass der alte gemeinsame Code schon nicht mehr galt.
Die Tätowierungen des Kriegsministers Pete Hegseth sind ein schrilles Signal dafür, dass der evangelikale Fundamentalismus zur Leitschnur für die zweite Amtszeit Trumps geworden ist. So ist der Vizepräsident J. D. Vance in den vergangenen Jahren mehr und mehr unter den Einfluss des Unternehmers Peter Thiel geraten. Peter Thiel ist einer der Stars vom Silicon Valley. Unter anderem gründete er PayPal und ist Mitbegründer von Palantir Technologies, ein Unternehmen, das sich auf die Analyse grosser Datenmengen spezialisiert hat. Thiel ist vielfacher Milliardär. Er studierte an der Stanford University. Niemand kann ihm absprechen, dass er einer der brillantesten Köpfe unserer Zeit ist.
Der «Antichrist»
Während seines Studiums wurde er mit den Werken von Leo Strauss bekannt, einem Philosophen, der besonders in Amerika Einfluss ausübte. Strauss gehört zu jenen Denkern, die die Grenzen der Vernunft ausgemessen haben und zu dem Ergebnis kamen, dass ihr am Ende nicht zu trauen sei. In der deutschen Philosophie steht er damit nicht allein. Auch Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, gingen zum Teil ähnliche Wege. Und der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt zog daraus die radikale Konsequenz, dass die Demokratie als vernunftgeleitete Herrschaftsform nichts tauge. Ganz genau so sieht es Peter Thiel.
Als Konsequenz hat sich Peter Thiel dem evangelikalen Fundamentalismus verschrieben und ist in eine Vorstellungswelt eingetaucht, die zum Beispiel mit dem Auftreten des «Antichristen» und seinen Helfershelfern den Europäern kaum zugänglich ist. Aber Thiel hat nicht nur J. D. Vance stark beeinflusst, sondern auch eine Reihe anderer in der Entourage von Donald Trump. Trump selber dürfte diese Überzeugungen eher oberflächlich angenommen haben.
Der Fundamentalismus um Donald Trump stammt also nicht aus dem Bible Belt Amerikas, sondern aus den Zentren der Wissenschaft, des Hightech und des ganz grossen Geldes. Wenn vom grossen Endkampf gegen das Auftauchen des «Antichristen» die Rede ist, dann lässt sich das nicht als ein eher folkloristisches Phänomen abtun, das über kurz oder lang wieder verschwinden wird. Mit einer berühmten Radierung hat Francisco des Goya 1799 davor gewarnt, die Pfade des vernünftigen Denkens zu verlassen: «Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer.» Heute muss man sagen, dass das Zerbrechen des gemeinsamen vernunftbasierten Codes von Europa und Amerika in seinen Folgen erst noch richtig verstanden werden muss.