Vor zehn Jahren stand das Land am Rand des Abgrunds: ein Referendum, geschlossene Banken, Kapitalverkehrskontrollen, die dritte Darlehensvereinbarung, durch die der Grexit abgewendet werden konnte – und das beherzte Eingreifen von Donald Tusk. Ein persönlicher Rückblick.
Kurz vor den griechischen Parlamentswahlen am 25. Januar 2015, die Alexis Tsipras zum Sieger machten und zum griechischen Premierminister werden liessen, erklärte der zukünftige Finanzminister Yanis Varoufakis in einem Fernsehinterview lächelnd, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) den Geldfluss an die griechischen Banken kappe, so gering sei wie die, dass die Sonne am nächsten Morgen nicht aufgehen würde.
Doch am 29. Juni 2015 – vor zehn Jahren – ging die Sonne wie gewohnt auf und kündigte einen heissen Sommertag an. Die Banken aber blieben geschlossen.
Es war das erste Mal, dass die Koalition der radikalen Linken (SYRIZA) den Ministerpräsidenten stellte und in der Regierung mehr als Juniorpartner war. Der bisherige, langjährige Oppositionsführer Alexis Tsipras musste gleich in seinem ersten Amtsjahr eines der schwierigsten Probleme der krisenreichen neugriechischen Geschichte lösen.
Misswirtschaft unter Karamanlis und Papandreou
Rückblende: Griechenland hatte seit dem Beitritt zur Eurozone nie besonders seriös gewirtschaftet. Unter dem PASOK-Ministerpräsidenten Simitis wurden aber die Proportionen noch gewahrt. Das Land profitierte von geringeren Risikoprämien und damit sinkenden Zinsen und investierte dieses Geld in Infrastruktur und Konsum und nicht in Schuldenabbau.
Unter der rechtsgerichteten Regierung von Ministerpräsident Karamanlis (2004–2009) liefen die Staatsfinanzen aber komplett aus dem Ruder. Die Ausgaben wurden aufgebläht, was mit Buchhaltungstricks verschleiert wurde. Mir war nie ganz klar, wie die Zahlen zustande kamen – immer mehr Ausgaben, und trotzdem schien die Defizitgrenze eingehalten. Offiziell. Ich begann, mir Sorgen zu machen. Etwas stimmte nicht.
Ich hatte dann im Sommer 2009 ein besonders übles Gefühl. Als ich durch Hellas fuhr, stellte ich stark gestiegene Benzinpreise fest. Da in Griechenland praktisch alles mit fossilen Brennstoffen transportiert wird, könnte das das Land in die Rezession stürzen, überlegte ich auf dem Weg nach Korfu. Ich hatte keine Ahnung, dass genau das soeben passiert war.
Die internationalen Investoren wurden sich der Rezession in Griechenland gewahr und auch der Tatsache, dass das negative Auswirkungen auf die Staatskasse haben dürfte. Sie verlangten Risikozuschläge. Karamanlis schrieb überraschend Wahlen aus – und verlor. Er rannte vor den Problemen davon. Der neue PASOK-Ministerpräsident Papandreou realisierte nicht, dass sein Land sich am Rande des Staatsbankrotts befand und verlor wertvolle Zeit. Im März 2010 beobachtete ich dann am Fernsehen aus der sicheren Schweiz, wie Griechenland seine Verbindlichkeiten nicht mehr decken konnte. Das Land war reif für ein Rettungsprogramm, das es in eine Krise stürzte, vergleichbar mit der Weltwirtschaftskrise in Deutschland – mit dem Unterschied, dass es viel länger dauerte, bis die Wirtschaft wieder wuchs. Das Vorkrisen-Wohlstandsniveau ist bis heute nicht erreicht.
Verlorenes Vertrauen und harte Bedingungen
Es folgten fünf Jahre, in denen sich das Land von Rettungsprogramm zu Rettungsprogramm hangelte, mit Regierungen, die teils mit Verfalldatum versehen waren. Und dann kam Tsipras und trat im Januar 2015 sein Amt an. Da ich mich in diesen Jahren sehr oft in Griechenland aufhielt – meine Tochter ging dort zur Schule –, ging mir der Krebsgang meiner zweiten Heimat derart an die Nieren, dass ich dies in einem Wirtschaftstagebuch niederschrieb. Das war dann die Inspiration zu einem Blog und zu vielen Artikeln – bis heute.
Der Regierungswechsel im Januar 2015 führte zu einem als «heroisch» propagierten, in Wirklichkeit aber absolut aussichtslosen und zerstörerischen fünfmonatigen Verhandlungsmarathon.
In der Folgezeit verlor die Regierung, und damit das Land, schrittweise das Vertrauen der Gläubiger. Finanzminister Varoufakis wurde im Eurogruppen-Kreis isoliert. Als die Verhandlungen ins Stocken gerieten, machten Grexit-Szenarien die Runde. Die Kassen waren leer, es bestand die Gefahr, dass Verbindlichkeiten nicht beglichen werden konnten. Obwohl die Regierung die Reserven staatlicher Einrichtungen, Versicherungen, Organisationen und Kommunen geplündert hatte, fehlten ihr 765 Millionen Euro zur Rückzahlung an den Internationalen Währungsfonds (IWF).
Der erfolglose EU-Gipfel vom 25. bis 26. Juni endete mit dem Druck auf Tsipras, die Vorschläge der Kommission anzunehmen.
Beim gemeinsamen Abendessen am 6. Juli beschlossen die deutsche Kanzlerin Merkel und der französische Präsident Hollande, Griechenland in der Eurozone zu halten. Aber nur, wenn Athen harte Bedingungen akzeptierte: sofortige Reformvorschläge, Abstimmung im Parlament mit breiter Mehrheit und Zustimmung in einer Sondersitzung. Andernfalls sollte Schäubles «Plan B» greifen: fünfjähriger Euro-Ausstieg mit 50-Milliarden-Hilfspaket. Der deutsche Finanzminister war dafür, dass Griechenland aus der Eurozone ausscheiden müsse.
Einigung in letzter Minute
Vor allem Hollande hatte befürchtet, dass Griechenland bei einem Grexit sich Russland annähern würde. Es gab Gerüchte, wonach Athen sich in Russland eigene Banknoten drucken liess. Der russische Präsident Putin dementierte in einem Telefonat mit Hollande und machte klar, dass Russland Griechenland nicht aus der Eurozone drängen wolle.
Am Morgen des 13. Juli 2015 war Griechenland weiterhin Mitglied der Eurozone. Die Entscheidung war gefallen – doch der Preis war hoch. Es hätte aber auch anders kommen können. Deshalb sorgte ich immer für einen vollen Tank und genügend Reservesprit, um autark aus dem Land zu kommen. Wäre es zum Grexit gekommen, dann wären am nächsten Tag Panzer aufgefahren. Ich hätte die Familie ins Auto gepackt und wäre losgedüst.
Wie war die Einigung in letzter Minute zustande gekommen? Der heutige polnische Ministerpräsident Donald Tusk – damals EU-Ratspräsident – spielte dabei eine Schlüsselrolle. Ihm ist es wesentlich zu verdanken, dass Griechenland nicht im Chaos versunken ist. Ich habe hier beschrieben, wie die Verhandlungen praktisch gescheitert waren und durch nächtliches Eingreifen von Tusk doch noch erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Ich bin dem mutigen Polen bis heute dankbar.
Donald Tusk drohte nämlich bei der Sondersitzung am 13. Juli, nachdem sich Merkel geweigert hatte, Tsipras’ Wunsch zuzustimmen, 15 statt nur 10 Milliarden aus dem Privatisierungsfonds in Investitionen umzuleiten: «Wenn ihr darauf besteht, werde ich vor die Presse treten und sagen, dass ihr wegen 2,5 Milliarden Europa zerstört habt.» Das brachte die Einigung.
Darlehen trotz griechischem Volks-Nein
Später rief Tsipras Merkel und Hollande an und informierte sie über die Entscheidung zum Referendum – mit der klaren Haltung seiner Regierung für ein «Nein». Merkel war schockiert: «Es war eines der überraschendsten Telefonate meines politischen Lebens.»
Die griechische Bevölkerung stimmte dann im nicht-bindenden Referendum mit «Nein», aber Tsipras setzte die Darlehensvereinbarung trotzdem um. Das kam so:
Das von Alexis Tsipras angekündigte Referendum zur neuen Darlehensvereinbarung («Memorandum») löste einen weiteren Bankrun aus – die Geldautomaten waren in wenigen Stunden leer. In den sechs Monaten zuvor hatten die Banken bereits 50 Milliarden Euro an Einlagen durch die politische Unsicherheit verloren. Daraufhin wurden Kapitalverkehrskontrollen eingeführt, die für längere Zeit galten, bis eine Mindeststabilität erreicht wurde. Das erforderte eine weitere Rekapitalisierung der Banken – einer der Grundpfeiler des dritten, zugleich härtesten Memorandums, das die griechische Wirtschaft mit 86 bis 100 Milliarden Euro und das griechische Volk mit weiteren Sparmassnahmen in Höhe von 16 Milliarden Euro belastete.
Im Bemühen, zwischen der linksgerichteten Fraktion seiner Partei um Varoufakis, seinen persönlichen Überzeugungen und dem zunehmenden Druck für einen realistischen Kompromiss mit dem Ziel einer Vermeidung des Grexits zu balancieren, entschied Tsipras sich für das Referendum.
Es folgten 17 Tage voller Angst. Das Referendum wurde unter Kapitalverkehrskontrollen durchgeführt, mit einer vagen Fragestellung: «Ja oder Nein zum Vorschlag der Kommission?» Von vielen – in Europa und Griechenland – wurde das als «Ja oder Nein zum Euro» gedeutet.
Feuertaufe für Tsipras
Ich verbrachte meine Sommerferien wie immer in unserem Sommerhaus auf einer griechischen Insel. Mit einem Bündel von Banknoten war ich aus der Schweiz angereist – genug, um die ganzen Ferien zu finanzieren. Es war noch möglich, mit Karte zu bezahlen, aber Bargeld? Das gaben die Banken nur in homöopathischen Dosen. Und gerade deshalb war Bargeld begehrt: «cash is king!»
Die Szene war unwirklich. Ich fuhr mit dem Auto gegen das Ferienhaus. Die Cafés und Strände waren voll, aber am Radio gab Ministerpräsident Tsipras ein ungewohntes Interview: selbstkritisch und leise. Er machte nicht wie sonst den Mann. Über eine Stunde stellte er sich den Fragen der Journalisten. Die Stimme wirkte schwer und übermüdet. Es sprach nicht mehr der junge Schnösel ohne Lebenserfahrung, der kaum etwas gearbeitet hat ausser Streiks und Besetzungen organisiert und an Schülerversammlungen, bei Demonstrationen und im Parlament gesprochen zu haben. Es redete ein rundum gereifter Mann, der soeben eine Feuertaufe bestanden hatte.
Tsipras bestätigte, dass jede andere Strategie als die von ihm gewählte «Erfüllungspolitik» für Griechenland deutlich schlechter wäre. Er begründete auch, warum die jetzt gefundene Lösung deutlich besser sei als das Papier, das Ende Juni auf dem Tisch gelegen hatte, und besser als frühere Vereinbarungen.
Er begründete diese Einschätzung vor allem damit, dass die Vereinbarung über drei Jahre laufen würde und nicht nur über einige Monate. 2018 muss das Land zum Beispiel einen Primärüberschuss von 3 Prozent erwirtschaften und nicht 4,5 Prozent. Auch für 2017 war das Ziel deutlich weniger ambitiös als in früheren Vereinbarungen. Das ist ein wichtiger griechischer Verhandlungserfolg. Es war gerade dieses Sparen auf Teufel komm raus, welches das Land in den Jahren von 2010 bis 2015 noch tiefer in die Krise getrieben und letztlich dazu geführt hatte, dass der Schuldenberg im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung stieg, nicht sank.
Erstaunlich selbstkritisch gab sich der Regierungschef bei der Rentenreform. Er bestätigte was mir schon lange klar war: In Griechenland kommen auf einen Rentner 1,25 Werktätige. Das ist einer der schlechtesten Werte Europas; gerade bei einem reinen Umlageverfahren ist das nicht finanzierbar.
Die Rettung – ein gutes Geschäft für die Geber
Von da an ging es mit Griechenland wieder aufwärts – oder zumindest nicht weiter abwärts, mit einer Regierung, die erstmals seit langer Zeit kaum korrupt war und mit dem schottisch-griechischen Ökonomen Euklid Tsakalotos als Finanzminister. Und es war gerade Deutschland, das Hellas im Zweiten Weltkrieg ausgeplündert hatte und nie dafür geradestehen musste, das unter dem Pfennigfuchser Schäuble am meisten von der Darlehensvereinbarung profitierte.
In den deutschen Medien wurde es so dargestellt, als ob das Geld für die Griechenlanddarlehen vom Steuerzahler käme – und als ob es wohl nie zurückgezahlt würde. Das führte zu einer antigriechischen Stimmung in Deutschland mit Äusserungen in den Medien, die oft nahe am Rassismus waren.
In Tat und Wahrheit funktionierten die Darlehensvereinbarungen so: Der Internationale Währungsfonds (IMF) und der Euro-Rettungsschirm nahmen an den Märkten Geld auf. Sie erhielten es zu sehr günstigen Bedingungen, weil die Mitgliedsländer eine Garantie abgaben. Diese Garantie wurde bis heute nie beansprucht und die Garantieländer wie Deutschland haben mit den Zinsen der Griechenlandrettung Millionen verdient – was die Medien geflissentlich verschweigen.