Interkulturelle Verständigung ist ein gelegentlich schwieriges Geschäft. Hinter vermeintlich eindeutigen Vokabeln können ganz unterschiedliche begriffliche Vorstellungen stecken. Daraus erwachsen Missverständnisse, die oft keineswegs harmlos sind.
Nicht nur im Falle Chinas machen unterschiedliche Vorstellungen bei vermeintlich eindeutigen Wörtern Schwierigkeiten. Auch im Verkehr mit den kulturell vermeintlich nahen USA drohen sprachliche Fallstricke. Was heisst zum Beispiel «Festpreis»? Im Zusammenhang mit den von der Schweiz «zum Festpreis» bestellten F-35 hat Peter V. Kunz im «Tages-Anzeiger» bemerkt: «Selbst ein Praktikant hätte erkennen müssen, dass die Amerikaner unter Festpreis etwas anderes verstehen als wir.»
Im deutschsprachigen Bereich werden die Termini «Begriff» und «Wort» häufig nicht auseinandergehalten. Nun sollte man aber unter «Begriff» etwas Mentales, eine Verstandesvorstellung verstehen, worin Merkmale eines Dinges geistig dargestellt und erfasst werden. Mit «Wort» hingegen bezeichnet man den sprachlichen Ausdruck eines Begriffs. Ein Wort kann für mehrere Begriffe stehen. So kann «Wirtschaft» für Volkswirtschaft, aber auch für Gasthaus, Kneipe stehen.
Das Wort ist eine Sprach-, der Begriff dagegen eine Denkeinheit. Ein Wort hat eine festgelegte visuelle und akustische Gestalt, ein Begriff jedoch ist etwas Geistiges, Immaterielles. Ein Wort steht fest, man kann es nur in einer ganz bestimmten Form schreiben oder aussprechen. Einen Begriff aber kann man auf unterschiedliche Weise verbalisieren.
«Demokratie» beispielsweise ist «ein Wort mit einer vielfältigen Geschichte und vielen Bedeutungen» (Daniel Thürer). Im antiken Griechenland wurde mit dem Wort «Demokratie» eine Regierungsform bezeichnet, in der Männer ohne den Einbezug von Frauen und Sklaven den Ton angaben. In der Schweiz mit ihrer halbdirekten Demokratie hat man eine andere Vorstellung von Demokratie als in repräsentativen Demokratien wie Frankreich und Deutschland.
Das heute geläufige chinesische Wort für Demokratie taucht erstmals in einem über 2’000 Jahre alten klassischen konfuzianischen Text auf, und zwar in der Bedeutung «Herrscher über das Volk». Erst in der Neuzeit wurde dem Wort die Bedeutung «Herrschaft des Volkes» zugewiesen.
In der Volksrepublik China wird das Wort «Demokratie» sehr häufig benutzt, aber nicht im Sinne einer liberalen, sondern einer «sozialistischen» Demokratie. Ja, auch das chinesische Wort für Volk (renmin) hat in der VR China mitnichten dieselbe Bedeutung wie heutzutage gemeinhin das deutsche Wort «Volk».
Uno-Deklarationen wie die Human-Rights-Resolution «Strengthening of popular participation, equity, social justice and non‑discrimination as essential foundations of democracy» halten fest: «there is no one model of democracy; therefore we must not seek to export any particular model of democracy». Immer wieder wird in offiziellen chinesischen Verlautbarungen im Einklang mit solchen Uno-Resolutionen betont, dass es nicht ein einziges weltweit gültiges Demokratiemodell gebe.
So kann man feststellen, dass zwar das Wort «Demokratie» globalisiert ist – selbst Nordkorea nennt sich demokratisch –, aber es gibt keinen weltweit einheitlichen Begriff der Demokratie. Das gilt gleichermassen auch für das Wort «Menschenrechte». Amtspersonen der VR China verstehen darunter wirtschaftliche Grundrechte wie das Recht auf Nahrung, Amtspersonen im Westen dagegen politische Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäusserung.
Wer Chinesisch lernt, lernt Wörter, nicht Begriffe. Er oder sie benutzt Wörter- und nicht Begriffsbücher. Im Wörterbuch steht ohne Erläuterung neben dem deutschen Wort «Demokratie» das chinesische Wort «mínzhǔ». (Das neue chinesisch-deutsche Wörterbuch, 10. Nachdruck, Beijing 2009, S. 565)
Über die Bedeutung des Wortes «mínzhǔ» in der VR China schweigt sich das Wörterbuch aus. Um das zu erfahren, müsste man Zugriff auf eine chinesische Enzyklopädie wie «Cihai» (Wörtermeer) haben; diese gibt es aber nur in chinesischer Sprache.
So wie man dem Irrtum verfällt, dass «Festpreis» von Amerikanern gleich verstanden werde wie von Schweizern, so verfallen Chinesisch Lernende nur allzu leicht dem Irrtum, sie könnten aus Wortäquivalenzen wie «Demokratie – mínzhǔ» auf Begriffsäquivalenzen schliessen. Diese Annahme ist im technisch-naturwissenschaftlichen und militärischen Bereich in der Regel angängig. Wörter wie «Laser», «Radioastronomie» oder «Atombombe» beziehen sich im Deutschen und im Chinesischen jeweils auf die gleichen Begriffe.
Anders im geistes- und humanwissenschaftlichen, aber auch im juristischen und politischen Bereich, wo die interkulturelle Kommunikation ungleich anspruchsvoller ist. Hier kann die Auffassung, Wörteräquivalenz signalisiere Begriffsäquivalenz, zu manchmal keineswegs harmlosen Missverständnissen führen.
Näheres im Kapitel «Demokratie und Minzhu» in: Harro von Senger, Moulüe – Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte. München 2024, S. 251 ff