
Im Schatten des Krieges in Gaza eskaliert die Lage im besetzten Westjordanland, wo israelische Siedler nicht nur Palästinenserinnen und Palästinenser, sondern auch die eigene Armee angreifen. Israels Regierung spricht von der «Überschreitung einer roten Linie», doch die Wurzel des Übels liegt in der ungebremsten Siedlungspolitik und deren Unterstützung durch rechtsextreme Kreise.
Während erneut Ankündigungen eines Waffenstillstands und einer Geiselbefreiung in Gaza die Runde machen, intensiviert Israel seine Angriffe auf den Küstenstreifen – unter Umständen, um Druck auf die Hamas auszuüben, einem amerikanischen Vorschlag zuzustimmen, welcher der Regierung in Jerusalem längerfristig wohl mehr nützt als der palästinensischen Bevölkerung. So griff die israelische Armee (IDF) Anfang vergangener Woche ohne Vorwarnung das Al-Baqa Café am Strand von Gaza an, einer der letzten Orte des Gebiets, der noch verlässlichen Internet-Zugang und so etwas wie Normalität geboten hatte.
Der Luftangriff tötete mindestens 30 Menschen und verwundete Dutzende teils schwer, unter ihnen, wie meist, viele Frauen und Kinder. Unter den Opfern befand sich auch der 32-jährige Fotograf und Filmer Ismail Abu Hattab, einer von über 200 Medienschaffenden, welche die IDF seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Gaza getötet haben.
«Ein Symbol der Hoffnung»
Getötet wurde im Al-Baqa auch die 20-jährige Malak Musleh, als Gazas jüngste Boxerin bekannt, die sich im Küstenstreifen für den Frauensport eingesetzt hatte. «Sie war nicht nur eine Athletin, die von Erfolgen träumte», schrieb Sportjournalist Hussam Gharbawi auf Facebook, «Sie war ein Symbol der Hoffnung, von Stärke angesichts des Unmöglichen. Ihr Traum wurde so zerstört wie ihr Körper.»
Mitte Woche dann griff die IDF die Mustafa Hafez-Schule in Gaza City an, wo Vertriebene Schutz zu suchen pflegten. Die Attacke tötete zwölf Menschen und verwundete etliche mehr. «Wir haben kein Leben übrig, sagte eine Frau, die anonym bleiben wollte: «Lasst sie (die Israelis) uns doch einfach ausradieren, so dass wir endlich unsere Ruhe haben.»
«Die moralischste Armee der Welt
Die israelische Armee behauptete in der Folge, sie haben einen führenden Militanten der Hamas angegriffen, der in der Schule operierte. Sie bedauere, hiess es, jeglichen Schaden an «unbeteiligten Individuen» und würde Massnahmen ergreifen, um solchen Schaden zu minimieren – Äusserungen, die den Fakten in Gaza (siehe die Attacke auf das Café) längst Hohn sprechen und an Zynismus und Menschenverachtung kaum mehr zu überbieten sind. Premier Benjamin Netanjahu pflegt von «der moralischsten Armee» der Welt» zu sprechen.
Wenig erstaunlich, dass angesichts des mörderischen Geschehens in Gaza die Lage im Westjordanland in den Hintergrund rückt, obwohl die jüngste Entwicklung dort nicht weniger Besorgnis erregend ist. So haben Dutzende israelischer Siedler, laut Augenzeugen etliche unter ihnen maskiert und bewaffnet, vorletzte Woche das Dorf Kafr Malik nördlich von Ramallah angegriffen, Molotow-Cocktails geworfen sowie Häuser und Fahrzeuge in Brand gesetzt.
Illegale Aussenposten
In den vergangenen Monaten sind in der Umgebung des Dorfes von Siedlern mindestens sieben Aussenposten installiert worden. Die Posten sind dem israelischen Gesetz zufolge illegal, aber die Regierung hat in der Vergangenheit nichts gegen sie unternommen und einige im Nachhinein als legal erklärt. Derweil betrachtet ein Grossteil des Auslands alle jüdischen Siedlungen im besetzten Westjordanland als eine Verletzung internationalen Rechts.
Im Westjordanland, wo rund eine halbe Million jüdischer Siedlerinnen und Siedler unter drei Millionen Palästinenserrinnen und Palästinensern leben, haben Attacken auf einheimische Dörfer in den vergangenen Wochen stark zugenommen. Uno-Angaben zufolge haben Siedler in den ersten fünf Monaten des Jahres mehr als 220 Bewohnerinnen und Bewohner angegriffen und am 19. Juni einen Palästinenser getötet. Und zwei Tage vor der Siedlerattacke auf Kafr Malik hatte die israelische Armee in einem Olivenhain am Rande des Dorfes den 14-jährigen Ammar Hamayel erschossen. Eigenen Angaben zufolge schossen die IDF auf «Terroristen», die ein israelisches Fahrzeug mit Steinen beworfen hatten.
Siedler greifen Soldaten an
Seit Beginn des Krieges in Gaza 2023 sind im besetzten Westjordanland laut «Al Jazeera» mindestens 1’000 Palästinenserinnen und Palästinenser getötet und 9’230 Menschen verwundet worden. Weiter wurden mindestens 6’547 Personen vertrieben und 3’091 Häuser demoliert.
Der Angriff auf Kafr Malik und die Gegenwehr der Einheimischen setze eine Kettenreaktion in Gang, in deren Verlauf Siedler und israelische Sicherheitskräfte während fünf Stunden aneinandergerieten. Soldaten hatten am vorletzten Wochenende einen israelischen Jugendlichen angeschossen, worauf Rechtsextreme ausserhalb eines Militärstützpunkts Soldaten angriffen und am Sonntag eine nahegelegene Sicherheitsinstallation niederbrannten. Die Angreifer bewarfen Armeefahrzeuge mit Steinen, würgten einen Reservisten und versuchten, Soldaten mit Autos zu überfahren. Die IDF nahmen sechs Israelis, unter ihnen zwei Minderjährige, fest.
Doch statt die israelischen Randalierer bereits früher zu stoppen, hatten die Soldaten der IDF in Kafr Malik zuvor mehreren Augenzeugen zufolge auf Einheimische geschossen und den 15-jährigen Muhammed Naji, den 18-jährigen Lutfi Baeirat und den 35-jährigen Murshid Hamayel getötet. Neun weitere Personen wurden teils schwer verletzt.
«Das schöne Gesicht Israels»
Israels Regierungschef und sein Verteidigungsminister verurteilten die Angriffe auf eigene Soldaten scharf und sprachen von «einer Überschreitung roter Linien». Die Exekutive werde es nicht zulassen, «dass ein gewalttätiger, mordstrunkener Siedlermob eine ganze Gemeinschaft in Verruf bringt».
Finanzminister Bezalel Smotrich, selbst Siedler, behauptete, dass «die Siedlungen in Judäa und Samaria das schöne Gesicht Israels sind und nichts mit solchen Vorfällen zu tun haben. Derweil sprachen israelische Oppositionelle von «jüdischen Terroristen». Die Erfahrung zeigt, dass beteiligte Siedler nur selten, wenn überhaupt von den zuständigen Behörden zur Rechenschaft gezogen werden
Auch seitens Siedlern heisst es gern, die Militanten unter ihnen seien eine verschwindend kleine Minderheit und Angriffe auf Palästinenserinnen und Palästinenser zu verurteilen. Dem widerspricht der israelische Journalist Zvi Barel, den das jüdische Wochenmagazin «Tachles» zitiert. Er schreibt, die «rote Linie» sei nur gezogen worden, weil die Randalierer die israelischen Streitkräfte angegriffen hätten.
Vorrang der Rückeroberung
In Wirklichkeit, so Barel in «Haaretz», habe die ganze Geschichte mit den Anfängen der Siedlerbewegung begonnen und sich mit dem israelischen Rückzug 2005 aus Gaza und Hunderten weiteren Vorfällen fortgesetzt, bei denen Siedler Gewalt angewendet und Soldaten mit Waffen bedroht hätten: «Mainstream-Siedler aus dem Herzen der Siedlungsbewegung, darunter Rabbiner und Gemeindevorsteher, die von Knesset-Abgeordneten und Premierministern unterstützt wurden, legten den Grundstein für den Konsens, dass die Rückeroberung des Landes Vorrang vor der Rechtstaatlichkeit und der Ehre der Armee hat.»
Auch wüssten die Siedler besser als gewisse Politiker, dass es eine handfeste Kooperation zwischen ihnen als «Gesetzestreuen» und der «Handvoll» Militanter in den eigenen Reihen gebe: «Diese Zusammenarbeit basiert auf dem Verständnis, dass die IDF im Westjordanland nicht nur eine Behörde ist, die die Siedler schützt oder Meutereien in palästinensischen Dörfern bewacht. Ihre Unterstützung und Zusammenarbeit mit ihnen ist in erster Linie ein strategischer Vorteil, der sie in den nationalen Konsens einbindet. Um ihretwillen hat die IDF alle Israelis zu einem untrennbaren Teil dieser Handvoll radikaler Siedler gemacht.
Ganz eigene Regeln
Währenddessen fragte die Tageszeitung «Haaretz», wie es sein kann, dass Siedler sich Soldaten der IDF ungestraft nähern und sie attackieren dürfen, während ein Palästinenser höchstwahrscheinlich erschossen würde, bevor er auch nur näher kommen könnte: «Gemäss diesen Regeln zahlen Palästinenserinnen und Palästinenser mit ihren Leben für Handlungen, die jüdische Siedler regelmässig ohne Konsequenzen und häufig mit offizieller Unterstützung begehen.» Das Westjordanland habe eigene Regeln, die darauf abzielen, die Hoheit des einen Volkes über das andere sicherzustellen, das auf demselben Land lebt – «durchgesetzt mit selektiver Gewalt und selektiver Gerechtigkeit».
Wie solche Gewalt sich äussert, zeigte im vergangenen Mai ein Angriff der IDF auf das Dorf Jit im Norden des Westjordanlands. Dort drangen israelische Soldaten nachts in ein zweistöckiges Haus ein, nachdem sie dessen Türe aufgebrochen hatten. Im Haus wohnte eine Familie, von der kein Mitglied «gesucht» wurde oder je verhaftet worden war.
«Eine kaltblütige Exekution»
Ein Soldat schoss vier Mal in ein dunkles Zimmer, wo der 20-jährige Jassem al-Sidda im Schlaf ermordet wurde. «Warum hast du geschossen», hörte Vater Ibrahim Soldaten ihren Kollegen fragen und «verrückt, verrückt» rufen. Ein Soldat fragte den Schützen: «Wessen Leiche ist das?» Der antwortete, er wisse es nicht. «Du hast jemanden erschossen, ohne zu wissen, wer es war?», fragte der Soldat nach.
Ein Sprecher der IDF liess damals verlauten, der Vorfall werde untersucht. «Eine kaltblütige Exekution eines jungen Mannes in seinem Bett» – und ‘der Vorfall wird untersucht?’», fragte «Haaretz». Natürlich, so die Zeitung, werde man in absehbarer Zeit oder je nichts über das Ergebnis der Untersuchung erfahren: «Aber in den frühen Morgenstunden des 28. Mai hat ein Soldat einer gleichaltrigen Person ohne ersichtlichen Grund das Leben geraubt. Einfach so, als wäre das nichts.»
Die «Gazafication» des Westjordanlands
Fast scheint es so. Bereits Ende Januar hatte ein Leitartikel in «Haaretz» festgestellt, die «Gazafication» des Westjordanlands gehe weiter, einschliesslich der intolerablen Leichtigkeit, mit der dort Kinder getötet würden. So wie etwa der achtjährige Reda Besharat und sein zehnjähriger Cousin Hamza im Dorf Tammum, die Anfang Januar von einer Drohne getötet wurden, als sie sich auf den Schulweg machen wollten.
Die zynische Entschuldigung der IDF? Die Drohne habe «aufgrund der Identifizierung zum Zeitpunkt des Vorfalls gefeuert, es war schwierig, festzustellen, dass (das Ziel) Jugendliche waren.» Die Kinder seien irrtümlich als Erwachsene gesehen worden, die Sprengstoff platziert hätten, der danach in der Umgebung aber nie gefunden wurde.
Israels «Handlungsfreiheit»
Auch im Januar töteten Soldaten der israelischen Armee im Dorf Moltah ash-Shuhada die zweijährige Laila Asous, als sie mindestens fünf Schüsse auf das Haus abfeuerten, in dem das Mädchen mit seiner Mutter, den Grosseltern und Tanten wohnte. Die Familie war gerade beim Nachtessen: Leila wurde getötet, ihrer Mutter in den Arm geschossen und eine Tante von Schrapnell am Kopf getroffen. Rund 24 Kugeln mehr trafen das Nachbarhaus.
Ihr Grossvater erzählt, das Mädchen habe erst noch gelebt und geweint. Er habe den Soldaten gefragt, wieso er sie getötet habe, sie sei ja noch ein Baby, und was sie verbrochen habe, um getötet zu werden. «Sorry», habe der Soldat geantwortet. Was meinst du mit «sorry», habe er gefragt: «Ihr ist in den Kopf geschossen worden.»
Die damalige Erklärung der IDF? Die Operation «Iron Wall» in Jenin ziele darauf ab, Israels «Handlungsfreiheit» im Westjordanland zu gewährleisten und die Infrastruktur des Terrors und «tickende Zeitbomben» ins Visier zu nehmen. Fragt sich nur, wer die Terroristen sind und wo die «tickenden Zeitbomben» sitzen.
Quellen: The Guardian, The New York Times, Haaretz, Tachles