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Kommentar 21

Kippeffekte

17. Juni 2021
Stephan Wehowsky
Die heissen Tage sind zurück. Manche geniessen sie, andere sehen in ihnen böse Vorzeichen.

Das Eis in der Arktis schmilzt wesentlich schneller als bisher angenommen. Das Forschungsschiff «Polarstern» hat diese im Gang befindliche Katastrophe auf ihrer jüngsten, ein ganzes Jahr andauernden Forschungsreise noch genauer vermessen. Wissenschaftler sprechen von Kipppunkten: Mit dem Schwinden des Eises in der Arktis nehmen die Meere über die Sonneneinstrahlung mehr Wärme auf. Die Temperaturen in Sibirien steigen, die Böden tauen auf, das darin gespeicherte Methan entweicht, was wiederum zur Klimaerwärmung beiträgt. Zugleich wird der Regenwald im Amazonas zusätzlich zur von Menschen verursachten Abholzung geschädigt.

Mit dem Wort Kipppunkt wird die Tatsache umschrieben, dass Systeme aus dem Gleichgewicht geraten und Effekte erzeugen, die man sich bislang in dieser Weise nicht vorgestellt hätte und die in ihrer weiteren Entwicklung nur schwer vorherzusagen sind. Das ist die eine Seite der Umweltproblematik.

Die andere Seite besteht darin, dass trotz intensiver internationaler Diskussionen einschliesslich vertraglich vereinbarter Ziele für die Rückführung der CO2-Emissionen bislang eher ein Ansteigen als ein Sinken zu verzeichnen ist. Die Wunder der Technik lassen auf sich warten, und sicher ist nur eines: Eine radikale Änderung der Konsumgewohnheiten und Lebensstile gelingt vielleicht punktuell, aber nicht in einer global benötigten Grössenordnung.

Dennoch beharren Klima-Wissenschaftler darauf, dass am 2-Grad-Ziel festzuhalten sei, und die Grünen erfreuen sich grosser Popularität. In Deutschland haben sie schon das Kanzleramt für die nächste Legislaturperiode im Visier, und um diese Chance nicht zu verspielen, machen sie klar, dass ihre ökologische Kritik am Reisen mit dem Flugzeug so rigoros, wie sie bisweilen klingt, nun auch wieder nicht ist. Der Mallorca-Flug ist schon ok.

Mit einer gewissen Portion Zynismus lässt sich die Frage stellen, ob es in Anbetracht der sich schon jetzt abzeichnenden Kippeffekte nicht durchaus realistisch ist, die Möglichkeiten klimaverträglichen Verhaltens geringer als bisher zu veranschlagen. Insofern wäre der Opportunismus der Grünen der wahre Realismus. Und man kann die einschlägigen Wissenschaftler fragen, ob nicht ihre Diagnose der Kippeffekte so niederschmetternd ist, dass daraus keine rationalen Handlungsoptionen zur Begrenzung oder gar Umsteuerung mehr abgeleitet werden können.

Wir lebten dann allerdings in einer buchstäblich hoffnungslosen Gesellschaft. Das wäre auch ein Kippeffekt.

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