Auf die Frage, ob Demokratie ansteckend sei, kann man zunächst nur antworten: Es kommt auf den Zeitrahmen drauf an, den man ins Auge fasst. Im Demokratie-Index des britischen „Economist“ werden 30 von insgesamt 167 Ländern als „funktionierende Demokratien“ eingestuft. Das scheint auf den ersten Blick eine bescheidene Zahl – aber gegenüber dem Zustand vor hundert Jahren ist sie jedenfalls deutlich angewachsen.
Eine halbe Demokratie ist besser als gar keine
Seit dem Kollaps des sowjetischen Imperiums herrschen zumindest in den meisten europäischen Ländern des früheren kommunistischen Machtbereiches (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, Rumänien, der Ex-DDR, den drei baltischen Ländern sowie in Slowenien) zwar keine perfekten, doch immerhin einigermassen demokratische Verhältnisse – nicht zuletzt übrigens dank der Integration in die EU.
Zwar werden nach dem Democracy-Index des „Economist“ nicht alle diese Länder schon der Gruppe der „funktionierenden Demokratien“ zugerechnet. Doch man wird der vielschichtigen Wirklichkeit nicht gerecht, wenn man sie in ein plattes Schwarz-Weiss-Schema presst. Zwischen diesen Polen gibt es viele Grautöne. In diesen Graubereich gehören im Index des „Economist“ die „fehler- oder mängelbehafteten Demokratien“ – immerhin eine Gruppe von nicht weniger als 50 Ländern. Und ist eine fehlerhafte Demokratie für die meisten Bürger nicht erträglicher als gar keine Demokratie, also eine reine Diktatur?
Diese Frage muss man auch im Zusammenhang mit Russland und andern Ex-Sowjetrepubliken in Zentralasien oder im Kaukasus stellen. Dort sind die vor 20 Jahren so hoffnungsvoll begrüssten demokratischen Ansätze in vielen Bereichen wieder abgewürgt worden oder verkümmert. Aber trotz diesen Enttäuschungen gibt es heute in Russland oder der Ukraine, in Georgien und selbst in Kasachstan für die Menschen mehr Reisefreiheit und Informationsmöglichkeiten als etwa zur Zeit des Breschnew-Regimes. Mit gutem Grund spricht man bei diesen Ländern von Halb- oder Drittel-Demokratien oder „Hybrid-Regime“. So gesehen erscheint die These, dass Demokratie sich nicht ausbreite, höchst fragwürdig. Wo demokratische Ansätze vorhanden sind, können sie sich im Lauf der Jahre ja weiter entwickeln – wie zum Beispiel in den letzten zehn oder fünfzehn Jahren in Lateinamerika.
Beispiele der Geschichte
Die Geschichte zeigt viele prominente Beispiele, dass Aufstände gegen repressive Verhältnisse kaum je schnurstracks zu mehr Freiheit und Gerechtigkeit für das Volk führen. Man denke nur an die französische oder die bolschewistische Revolution. Ähnliches gilt für die amerikanische Revolution gegen die britische Herrschaft: Sie brachte den weissen Kolonisten zwar politische Unabhängigkeit, aber sie schützte die Schwarzen nicht vor Sklaverei und die indianischen Ureinwohner nicht vor Ausrottung und Landraub.
Auch in der Schweiz ist die Demokratie nach dem Zusammenbruch des Ancien Regime keineswegs über Nacht ausgebrochen: Nach den napoleonischen Kriegen kam es zu einem langen Machtkampf zwischen restaurativen und liberalen Kräften und zum konfessionell motivierten Bürgerkrieg (Sonderbundskrieg), ehe 1848 eine moderne demokratische Verfassung zustande kam – bis 1971 allerdings noch ohne Frauenstimmrecht.
Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Mitbestimmung sind zwar stets die mehr weniger klar deklarierten Ideale von Revolutionen und Volksaufständen. Doch eine einigermassen glaubwürdige und verlässliche Verwirklichung dieser Ziele gelingt in den meisten Fällen nur im Laufe schwieriger Lern- und Reifeprozesse. Harte Rückschläge, Verrat durch rücksichtslose Sonderinteressen und oft mehrere Generationen andauernde Phasen des Lavierens im Graubereich von Halb- und Viertel-Demokratie gehören mit zu den Mustern solcher politischen Emanzipationsprozesse.
Entscheidende Faktoren für den „arabischen Frühling“
In der Regel sind es auch nicht äussere Mächte und Einflüsse, die das Gelingen oder Scheitern eines Demokratie-Prozesses entscheidend bestimmen. Gewichtiger sind am Ende der politische Wille der betroffenen Gesellschaft selber, ihre innere Reife und Kompromissfähigkeit sowie der Glücksfall einer weisen, glaubwürdigen Führung.
Man tut wohl gut daran, bei aller Freude und Bewunderung über die unerwarteten Aufbrüche zu einem „arabischen Frühling“ solche geschichtlichen Erfahrungen und Differenzierungen mit im Kopf zu behalten.