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Gaza

Vor einem Berg ungelöster Probleme

11. Dezember 2025
Ignaz Staub
Ignaz Staub
Palästinenser zwischen zerstörten Häusern bei Gaza-Cty
Palästinenser zwischen zerstörten Häusern im Umkreis von Gaza-City. Aufnahme vom Mittwoch. (Foto: . EPA/MOHAMMED SABER)

Auch einen Monat nach Beginn der Waffenruhe in Gaza verweigert die israelische Regierung ausländischen Medien den Zutritt zum Küstenstreifen. Was die Weltöffentlichkeit daran hindert, sich abseits aller Propaganda ein Bild dessen zu machen, was in Gaza wirklich passiert. 

Am vergangenen Sonntag hat es Israels Oberstes Gericht zum neunten Mal versäumt, auf eine Petition der Auslandspresse zu antworten, die Zugang um Gaza- Streifen fordert. Der nächstmögliche Termin für einen Entscheid ist der 21. Dezember, doch auch der könnte erneut hinausgeschoben werden. Die Foreign Press Association, welcher renommierte internationale Medien wie die Nachrichtenagenturen AP oder Reuters angehören, nennt den Nicht-Entscheid der israelischen Justiz «jenseits von absurd». 

«Diese wiederholten Verzögerungen haben der Welt die Möglichkeit geraubt, sich ein vollständigeres Bild der Verhältnisse in Gaza zu machen, und den Rechtsprozess ad absurdum geführt», heisst es in einer Mitteilung der Auslandpresse: «Seit Kriegsbeginn hat Israel unsere Journalistinnen und Journalisten daran gehindert, nach Gaza zu gehen, es sei denn, sie werden (vom israelischen Militär) begleitet, und so die Berichterstattung am Boden eingeschränkt, die wichtig ist, um den Konflikt zu verstehen und einen glaubwürdigen Informationsfluss zu sichern.

Kein Kommentar

Noch mögen das Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und das israelische Militär (IDF) den Nicht-Entscheid der Justiz nicht näher kommentieren. Die IDF hat früher argumentiert, die Präsenz ausländischer Medienschaffender sei unter Umständen ein Sicherheitsrisiko, weil sie Armeepositionen verraten oder sich selbst gefährden könnten. Kritiker dagegen argumentierten, es gehe Israel eher darum, schlechte Publizität zu vermeiden. Und diese Pressepolitik, so die Medien, verhindere auch, Missbrauch durch die Hamas, etwa ihr tödliches Vorgehen gegen innere Feinde, besser zu dokumentieren. 

Das Verbot für ausländische Medien, direkt aus Gaza zu berichten, sei in den ersten Kriegsmonaten angesichts der Heftigkeit der Kämpfe noch sinnvoll gewesen, sagt Jonathan Conricus, ein früherer Pressesprecher der israelischen Armee. Heute mache es keinen Sinn mehr und untergrabe lediglich Israels internationales Ansehen, weil es der Kritik an der Politik Jerusalems Nahrung gebe: «Israel hätte das Verbot schon vor einem Jahr lockern sollen und dies definitiv seit dem Waffenstillstand.» 

Über 200 Medienschaffende getötet

Nur palästinensische Journalistinnen und Journalisten können, häufig unter grossen persönlichen Risiken, egal ob seitens Israels oder der Hamas, in Gaza arbeiten. Laut der NGO «Committe to Protect Journalists» (CPJ) sind im Gebiet seit Kriegsbeginn nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 über 200 Medienschaffende getötet worden. Einige unter ihnen wurden glaubwürdigen internationalen Recherchen zufolge von der israelischen Armee gezielt getötet, was diese aber dementiert. Die IDF argumentiert, einige der Getöteten hätten der Hamas oder anderen bewaffneten Gruppen angehört. 

Seit Dezember 2024 sind gemäss der Menschenrechtsorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) 29 Medienschaffende in Gaza getötet worden – der Löwenanteil jener 67 Journalistinnen und Journalisten, die im vergangenen Jahr weltweit ums Leben gekommen sind. Am zweitgefährlichsten nach Gaza war Mexiko mit neun Todesopfern. «Wenn diejenigen, die kritisch berichten, um ihre Freiheit oder sogar um ihr Leben fürchten müssen, steht die Demokratie weltweit auf dem Spiel», sagt RSF-Geschäftsführerin Anja Osterhaus.   

Medizin-Personal schikaniert 

Israel verweigert nicht nur Medienschaffenden, sondern auch medizinischem Personal den Zutritt zu Gaza. Dort leiden derzeit mehr als 40'000 Palästinenserinnen und Palästinenser unter lebensgefährlichen Kriegsverletzungen. Zum Beispiel durfte Dr. Feroze Sidhwa, ein amerikanischer Unfallchirurg, nicht mehr einreisen, obwohl er dort bereits während zwei Missionen im Einsatz gewesen war, um Verwundete zu versorgen.

Dasselbe Los teilen mit dem Chirurgen drei weitere amerikanische Ärzte und eine Krankenpflegerin sowie Dutzende ausländischer Vertreterinnen und Vertreter des Medizinpersonals, die in den vergangenen Wochen die Grenze die Grenze nach Gaza nicht haben überqueren dürfen. Dies entgegen dem Waffenstillstandsabkommen, das eine deutliche Verbesserung humanitärer Hilfe versprochen hat. Im Küstenstreifen sind lediglich noch 18 von 36 Spitälern halbwegs funktionstüchtig und 1'700 Mitarbeitende im Medizinbereich seit Kriegsbeginn vor über zwei Jahren getötet worden.

Der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge sind internationale medizinische Freiwillige seit Januar 2024 für jeweils kurze Einsätze nach Gaza gereist, wo sie in übervölkerten und überforderten Spitälern und Kliniken wertvolle Hilfe geleistet haben. Bis im vergangenen Oktober haben sie so laut WHO 3,5 Millionen medizinische Konsultationen gegeben und mehr als 50'000 Notoperationen durchgeführt. 

Retourkutschen für offene Rede

COGAT, jene Zweigstelle der israelischen Armee, die den Zugang zu Gaza kontrolliert, mag die Zurückweisungen nicht kommentieren und verweist entsprechende Anfragen an den Inlandgeheimdienst Shin Bet, der aber auch nicht antworten mag – ein Muster, das wiederholt zu beobachten ist. Im Fall von Dr. Sidhwa ist es möglich, dass sein Einreiseverbot eine Folge des Umstands ist, dass er im vergangenen Mai vor dem Uno-Sicherheitsrat seine Erfahrungen in Gaza ungeschminkt geschildert hat – die schrecklichen Verletzungen, die verstümmelten Kinder, der tote Patient. 

Dem amerikanischen Kollegen stimmt die britische Chirurgin Victoria Rose zu, der nach drei Einsätzen in Gaza die Einreise drei Mal verweigert worden ist. Israelische Offizielle begründeten die Zurückweisung im ersten Fall mit einem administrativen Irrtum, in den weiteren Fällen damit, sie und andere Ärzte würden ein Sicherheitsrisiko darstellen. «Ich glaube definitiv, dass das das Einreiseverbot auf dem Umstand basiert, dass wir uns offen geäussert haben», meint Dr. Rose, die im Sommer der «New York Times» ein Interview gewährt hat. 

Die Statistik des Grauens

Gemäss dem lokalen Gesundheitsministerium sind seit Kriegsbeginn in Gaza 70'366 Menschen getötet worden (Stand 9. Dezember 2025). Gleichzeitig wurden 171’064 Palästinenserinnen und Palästinenser verwundet. Seit Beginn der Waffenruhe am 11. Oktober hat die israelische Armee im Gebiet mindestens 377 Menschen getötet und weitere 987 verwundet. 

Unter den jüngsten Toten sind mindestens 70 Kinder - unschuldige Opfer wie der achtjährige Jumaa und sein zehnjähriger Bruder Fadi Abu Assi in Bani Suheila. Die Beiden wollten Holz für ein Feuer suchen, als die Rakete einer israelischen Drohne sie traf. Sie waren offenbar der "gelben Linie" zu nahe gekommen, die den von Israel kontrollierten Teil des Gaza-Streifens vom palästinensischen Teil trennt. Der IDF zufolge waren die Knaben "Verdächtige", die eine Gefahr für ihre Truppen darstellten. 

Im Schnitt neun Tote pro Tag würden anderswo auf einen aktiven Konflikt, aber nicht auf eine Waffenruhe hindeuten. Doch das komme Israel sehr gelegen, sagt Daniel Levy, einst israelischer Unterhändler und heute Präsident des US/Middle East Project: "Der Druck ist weg, und sie haben das ganze Gebiet zerschlagen und können immer noch töten, wie sie wollen." Amnesty International (AI) wirft Israel vor, in Gaza nach wie vor Völkermord zu begehen und argumentiert, die Verwendung des Begriffs "Waffenruhe" suggeriere die gefährliche Illusion, dass das Leben in Gaza zur Nornalität zurückkehre.  

Derweil haben Zivilschützer unter den Trümmern des Al-Shifa Spitals 98 Leichen geborgen, unter denen 55 noch nicht identifiziert werden konnten. Damit wächst die Zahl der gefundenen sterblichen Überreste auf 626. Die Hamas massakrierte am 7. Oktober 2023 1'200 Israelis und nahm 250 Menschen als Geiseln. Die IDF hat seit Kriegsbeginn mindestens 913 Armeeangehörige verloren.

Diese Woche hat die für die Umweltqualität zuständige Behörde in Gaza zudem mitgeteilt, dass der Krieg mehr als 60 Millionen Tonnen Schutt produziert hat, darunter vier Millionen Tonnen Sondermüll, 50’000 Tonnen Asbest und rund 100'000 Tonnen Sprengstoff und nicht explodierte Munition. Dem Fernsehsender «Al Araby» zufolge hat die israelische Armee 80 Prozent der Wasserversorgung und der sanitarischen Infrastruktur Gazas zerstört. 

700'000 Tonnen Müll

Auch Abfalldeponien und Stellen für die Entsorgung von medizinischem Abfall sind weitgehend unbenutzbar geworden. Und mindestens 700'000 Tonnen Hausmüll warten auf Abtransport. Währenddessen ist in Gaza für Mitte Woche ein schwerer Wintersturm mit heftigen Regenfällen, Gewittern und Starkwinden prognostiziert worden, der die Lebensumstände der 1,5 Millionen vertriebenen Menschen, die mehrheitlich in Zelten leben, noch weiter erschweren dürfte. Inzwischen sind neun von zehn Palästinenserinnen und Palästinenser ohne Heim. Satellitenaufnahmen lassen vermuten, dass Bomben und Raketen der israelischen Armee 81 Prozent der Gebäude in Gaza entweder zerstört oder schwer beschädigt haben. Bereits im November hatte heftige Regenfälle Hunderte, wenn nicht Tausende von Zelten weggespült und die Kanalisation überlaufen lassen.  

Der Friedensplan für Gaza sah einerseits ein Ende des Tötens sowie würdigere Lebensumstände für die Menschen und andererseits eine Entwaffnung sowie Entmachtung der Hamas vor. Weder das eine noch das andere ist bisher wirklich eingetreten. Nicht nur tötet Israel nach wie vor tatsächliche oder angebliche Terroristen und ist die humanitäre Hilfe für Gaza noch immer ungenügend. Auch die Hamas ist trotz schweren Verlusten nach wie vor präsent. Ihrer Kämpfer patrouillieren auf den Strassen und haben interne Gegner exekutiert. Sie erheben Geschäftsleuten zufolge auch Zölle auf teurere Waren, die nach Gaza importiert werden. 

«Hart getroffen, nicht besiegt»

«Die Hamas ist hart getroffen, aber nicht besiegt worden», sagt Shalom Ben Hanan, ein früheres Mitglied des israelischen Inlandgeheimdienstes: «Sie steht immer noch.» Ben Hanan zufolge verfügt die Terrororganisation noch über 20'000 Kämpfer und hat ihre getöteten Führer rasch ersetzt. Fast die Hälfte des Tunnelnetzwerks, wo sie Waffen lagern kann, ist offenbar noch intakt. Zwar verfügt sie heute über weniger Raketen, kann aber leichtere Waffen wie Sturmgewehre, Panzerfäuste und Mörser einsetzen.

Der frühere Geheimdienstler warnt, die Hamas künftig zu unterschätzen. «Die Hamas ist zwar besiegt», sagt er, «aber wenn sie nach wie vor Teile Gazas kontrolliert und ihre Kapazitäten erneut aufbauen will, dann wird sie einen Weg finden, das zu tun.» Und er fügt bei: «Den nächste Kampf kann es unter Umständen in 10 oder 20 Jahren geben, aber der könnte viel schlimmer sein als der 7. Oktober.»

Die Hamas) versuche, der Öffentlich klar zu machen, dass sie noch immer am Drücker sei und sie sorge für Sicherheit», sagt der 31-jährige Nidal Kuhail, der in Gaza City lebt: «Du spürst ihre Präsenz, aber sie scheint schwächer zu sein als in der Vergangenheit.» Seine Organisation, sagt der Hamas-Offizielle Husam Badran, sei bereit, einer Gruppe palästinensischer Technokraten zu erlauben, die Verwaltung Gazas zu übernehmen. Gäbe es allerdings ein Sicherheitsvakuum, könnte das in ein Chaos münden.  

«Ernsthafte» Gespräche

Laut Husam Badran ist die Hamas bereit, über eine Entwaffnung zu diskutieren, allerdings nur im Kontext «ernsthafter» Gespräche über einen Abzug der israelischen Truppen aus Gaza, den vollständigen Stopp militärischer Operationen im Gebiet sowie die Schaffung eines Palästinenserstaates im Westjordanland, in Gaza und in Ost-Jerusalem. «Ohne das machen Gespräche über diese Themen keinen Sinn», sagt Badran: «Sie wären wertlos.» 

Quellen: New York Times, Washington Post, The Guardian, Drop Site Daily

 

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