Peter Regli (*1959 in Andermatt) wurde international bekannt mit seinen subtilen anonymen Eingriffen in Landschaften und öffentliche Räume, die er «Reality Hackings» nennt. In Altdorf wartet er mit einer Überraschung auf: mit einer Ausstellung voller Schönheit.
Die grosse Inschrift POST am Turm der Zürcher Sihlpost lautete im Jahr 2002 für sechs Wochen PSST. 1996 hiess das Zürcher Modehaus OBER, das längst kein Modehaus mehr ist, für fünf Monate ODER: Ein neuer Name, aber in der gleichen Reklame-Schrift in «klassischen» Grossbuchstaben aus der Bauzeit (um 1933). 2001 weilte ein spanischer Osborne-Brandy-Stier in Originalgrösse an der Autobahn im Kanton Uri auf Besuch beim Uri-Stier. Und im Mai 1999 versuchten sich in New-Mexico Rinder, auf deren Fell grosse Buchstaben gemalt waren, im Scrabble-Spiel.
Auch in den Alpen gab es da und dort solch seltsame Geschichten oder Absurditäten: Ein Wohnwagen nahm auf einem Gletscher bei Andermatt Platz (1997), auf einer Strassenkurve in der Furka-Region wurden, ebenfalls 1997, 80 Kilo Streusalz abgelagert. In den Zentralschweizer Alpen fand sich 1996 ein grosser Meteorit, der keiner war und dem nur Hochleistungsalpinisten begegnen konnten. Auch die weite Ferne wurde nicht verschont: Am südlichsten Punkt Afrikas standen 2006 erst ein weisser und später ein schwarzer Schneemann. In Vietnam begegneten sich 2007 marmorne Schneemänner und Buddha-Statuen. Ebenfalls in Vietnam, in Danang, nahm die Weltreise eines 5000 Kilo wiegenden, aus einem Marmorblock gemeisselten Schneemanns ihren Anfang.
Grundsatzfragen, aber nebenbei
Der all das in die Wege geleitet und inszeniert hat, der sich um Bewilligungen kümmerte oder ohne sie agierte und für die Finanzierung sorgte, ist Peter Regli. Der heute 66-jährig Künstler stammt aus dem Urserental und ist ein heimatverbundener Weltreisender mit offenen Augen. Bis heute gibt es von ihm über 430 solche Eingriffe in Landschaften oder städtische Räume. Regli nennt sie «Reality Hacking». Sie sind, mit Bild und mit fortlaufenden Nummern versehen, aufgelistet auf der Homepage www.realityhacking.com. Vor Ort findet sich nichts – kein Titel, kein Hinweis auf die Urheberschaft, kein Datum. Regli drängt sich mit seiner «Schule des Sehens» nicht auf. Er selbst sagte 2007 in einem Gespräch mit Jacqueline Burckhardt: «Meine Reality-Hackings bedingen ein Ausloten der Wahrnehmungsschwelle zwischen Sehen und Übersehen.» Vielleicht sehen wir das Ungewohnte, Beiläufige, Abseitige, Irritierende, Humorvolle und Intrigierende. Vielleicht sehen wir es nicht.
Oder wir nehmen es unbewusst auf und erinnern uns später: Da war doch etwas – zum Beispiel zwei Uhren, die, so absurd das ist, gegeneinander laufen. Das löst vielleicht (mehr will Peter Regli offensichtlich nicht, denn er ist diskret) Gedankensprünge hierhin und dorthin aus – zum Thema Zeit oder zum Zufallsspiel mit auf das Fell der Kühe aufgemalten Buchstaben im Scrabble. OBER war ein gepflegtes Modehaus mit ikonischer Architektur des Neuen Bauens. Und dann? Bürogebäude der UBS, jetzt grösstes Casino der Schweiz. Aus der POST ist vielleicht auch die Luft entwichen. Es bleibt nur ein PSST.
Wie verhalten sich Architekturhülle und Funktion zu einander? Wenn man um die Urheberschaft weiss, kommen auch Überlegungen zum Thema Kunst ins Spiel: Kunst, die kaum jemand sieht? Kunst ohne Hinweis auf Künstler und Titel? Und ohne Markt? Davon gibt es ohnehin genug, und er droht je länger je mehr korrumpiert zu sein. Und ohne Absatz und Vermittlung? Kunst mit welcher Funktion? Ist ihr überhaupt eine Funktion zuzuordnen? Eine mögliche Aussage: Kunst wird erst in unserem Kopf zu dem, was sie sein will.
Weniger heimtückisch. Dafür schön?
«RH» – «Reality Hacking» nennt Peter Regli auch die Arbeiten die er im Haus für Kunst Uri in Altdorf in der Ausstellung «My Home – My Fire» jetzt erstmals öffentlich zeigt, und auch sie alle versieht er mit Nummer und Eintrag in seinem Reality-Hacking-Katalog. Stets vermerkt er auch eine Ortsangabe, den Namen einer Stadt zum Beispiel. Er greift nicht mehr anonym und zugleich hinterhältig in die sichtbare Wirklichkeit ein, um sie heimtückisch, liebevoll oder witzig zu verändern. Vielmehr zeigt er, wo was entstanden ist. Das reicht von Städten im Norden oder Süden Spaniens bis nach Japan und China.
Das sieht nach einem Strategiewechsel des Künstlers knapp über der Schwelle zum Pensionsalter aus. Jedenfalls scheinen Peter Reglis neue Arbeiten ruhiger und eingängiger, vielleicht weniger hinterhältig als der schwarze Schneemann in Südafrika. Sind sie stattdessen schöner? Die Ausstellung in Altdorf liesse sich lesen als ein überraschendes – und vielleicht gerade darum verstörendes – Bekenntnis des zuvor eher dem Lager der auch politisch argumentierenden Konzeptkunst zuzuordnenden Künstlers zur zweckfreien Schönheit. Damit verbunden ist auch die Hinwendung zu einer in lokalen kulturellen Traditionen wurzelnden Handarbeit, die technische Kenntnisse, Einfühlung in Erfordernisse und Eigenarten der Materialien und hochrangiges ästhetisches Bewusstsein voraussetzt.
Konkret heisst das im Zusammenhang mit der Ausstellung «My Home – My Fire»: Peter Regli nistet sich mit den neuen «Reality Hackings» in die Tradition keramischen Kunsthandwerks ein, eignet sich deren komplexe, oft fast alchemistische Herstellungsprozesse an und transferiert die Ergebnisse in seine Heimat («My Home»). Im Haus für Kunst Uri fügt er bemalte, glasierte und gebrannte Keramikplatten zusammen zu formal und in ihrer Farbigkeit spontan und frei wirkenden Wandgemälden. Der zweite Teil des Titels, «My Fire», meint möglicherweise das Feuer, dem diese und andere Keramiken ausgesetzt sein müssen, vielleicht aber auch das innere Feuer, ohne das es Kunst nicht geben kann.
Vogelkäfige als poetisches Element
An einer Wand reiht Peter Regli bunte, von freier Phantasie zeugende Masken auf. Es sind fröhliche, böse, schnippische, strenge oder lustige Gesichter, die auch einer Innerschweizer Fasnachts-Maskenwelt entstammen könnten. An einer weiteren Wand präsentiert er, die Grenze zwischen freier Kunst und Kunsthandwerk virtuos überspielende, teils leuchtend bunte, teils ruhig monochrome Keramikschalen. Ins Ganze streut er frei und gross ausgreifende Malereien und zahlreiche handgefertigte grosse Töpfe, welche die Spuren der gestaltenden Hand des Künstlers tragen. Da wird zum Beispiel der Abdruck des Daumens zum bestimmenden Kennzeichen eines der Objekte. Dazu zeigt Regli – und das ist ein ausgesprochen poetisches und federleichtes Element dieser Ausstellung – meist aus Bambus gefertigt Vogelkäfige, die er auf Märkten in Japan oder China kaufte. Ebenfalls auf Märkten erstand er Halbedelsteine, deren Formen an kleine Vögel erinnert. Er setzte die Achate, Amethyste oder Quarze auf die Stängelchen in den Käfigen, als seien es eben Kanarienvögel.
Im Eingangsbereich wartet Peter Regli mit einem selbstironischen Aperçu auf: Da steht auf einem weissen Sockel eine kleine hölzerne Sitzbank, auf der ein in Ton modellierter Schneemann mit spitzer Nase Platz genommen hat. Ein Schneemann, Markenzeichen Peter Reglis, diesmal hoch aufragend und aus weissem Marmor, steht auch wie ein Wächter draussen vor dem Zugang zum Haus. «Der Schneemann ist doch die erste Skulptur, die wir alle in unserer Kindheit geformt haben», sagt Barbara Zürcher dazu. Sie hat die Ausstellung betreut. Mit «My Home – My Fire» beendet sie nach 16 Jahren ihre Tätigkeit als Leiterin des Hauses Kunst Uri in Altdorf. Sie hat der kleinen Institution neben all den grossen Museen und Zentren ein eigenständiges Gesicht gegeben.
Peter Regli (*1959 in Andermatt) studierte an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Seit 1995 führt er im In- und Ausland anonyme Interventionen im öffentlichen Raum durch, die er «Reality Hacking» nennt. Bedeutende Einzelausstellungen: Galerie Brandstetter und Wyss, Zürich (2000); Centre d’art contemporain, Genf (2003); Kunsthalle Winterthur (2003); Kunsthof Zürich (2004); Blank Projects, Kapstadt (2006); Helmhaus Zürich (2007). Wichtige Gruppenausstellungen: Museum of Modern Art, New York (2002); Kunsthaus Zürich (2002); Künstlerhaus Dortmund (2004); Kunsthaus Glarus (2005); International Biennale of Contemporary Art, Prag (2005); Museo de Arte contemporáneo, Santiago de Chile (2005–06); Centre culturel suisse, Paris (2006); Kunstmuseum Luzern (2006); Kunsthaus Zürich (2006–07). Seit 2001 auch Klangprojekte in Zusammenarbeit mit dem Ensemble für Neue Musik Zürich. Peter Regli wohnt mehrheitlich in Zürich, bereist die ganze Welt und kehrt oft in seine Heimat zurück.
Haus für Kunst Uri, Altdorf
bis 18. Mai 2025