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Zum Tod von Peter von Matt

Zwei Zitate statt einer Würdigung

23. April 2025
Moritz Leuenberger
Moritz Leuenberger
Peter von Matt
Peter von Matt starb gestern im Alter von 87 Jahren in Zürich. Das Bild entstand am 6. April 2005 im Lesesaal des Literaturhauses in Zürich. (Keystone/Gaetan Bally)

Immer habe ich zu ihm hinaufgeschaut. 

Das ist der Grund, dass ich mir keine Würdigung anmasse und ihn selbst zu Wort kommen will.

Damals, 1998, als er vor allen versammelten kantonalen und eidgenössischen Parlamenten und Regierungen unseres Landes zur Feier von «200 Jahre moderne Schweiz» sprach, inmitten der politischen Auseinandersetzungen darüber, ob das Jubiläum der liberalen Bundesverfassung tatsächlich zu feiern sei oder ob das eigentliche Gen der Schweiz eine Schlacht von Morgarten und Sempach sei, eine Kontroverse, die parallel zu derjenigen über unsere Haltung zur Europäischen Union verlief. 

Peter von Matts Rede begann so:

«Es ist nicht überall ganz geheuer im Kanton Aargau. Noch immer kann es geschehen, dass einem in der Nacht, wenn man allein unterwegs ist, plötzlich ein Reiter begegnet. Der sitzt auf einem gewaltigen Ross, gestiefelt und gespornt, und nebenher läuft ein weisses Hündchen. Der Boden dröhnt. Die Sporen klirren, das Ross rast mit aufgerissenen Augen voran. Dem Reiter aber sitzt der Kopf verkehrt auf dem Leib, und seine Augen starren rückwärts in die Nacht. Vergebens sucht er den Kopf zu drehen. Immerzu muss er zurückblicken, als wäre dort etwas, was er nicht sehen will und doch nicht aus den Augen bringt.

Das ist der Stiefelreiter. Man kennt seine Geschichte. Ein Verbrechen hat er begangen gegen Recht und Gesetz und gegen die Menschlichkeit. Falsch geschworen hat er, aus Geldgier und weil er unfähig war zu Mitgefühl. Jetzt starrt er zurück in seine Vergangenheit und bringt sie nicht mehr los. 

So kann es einem ganzen Land mit seiner Geschichte gehen. Es sollte nach vorn schauen, frei entscheidungsfreudig, mit Lust an der Zukunft und kühnen Plänen im Herzen. Aber eine furchtbare Gewalt hat ihm den Kopf umgedreht auf dem Rumpf. Es weiss nicht, wo das Ross hinspringt in der Nacht. Es sieht nur, was war, und begreift nicht, was es damit anfangen soll.»

Später, 2001, während des traditionellen Schulreislis in den Kanton Zürich, sprach er zum versammelten Gesamtbundesrat vor dem Grabe Elias Canetti unter anderem:

«Wenn Sie von diesem Hügel über die Stadt schauen, können Sie das auf zwei Arten tun. Entweder sehen Sie einen geschlossenen Raum, begrenzt von See und Bergrücken, oder Sie sehen den See und die Stadt als Teil des uralten Weges von Italien her, älter als der Gotthardpass, und Zürich als die Station, wo man umlädt und lagert und die Reisenden beschützt. So kamen einst die Römer über die Bündner Pässe den See herunter und brachten den Wein und das römische Recht und die lateinische Syntax.

Wo Wein wächst, ist Kultur. Wein ist immer beides: harte Arbeit und rauschhafte Begeisterung. Beides ist auch die Voraussetzung der Kunst. Fleiss allein bringt Schwielen, Rausch allein bringt Kopfweh, beides zusammen, ergibt das Kunstwerk und also auch die inspirierte Politik.»

Nie hat Peter von Matt auf mich herabgeschaut. 

Er hat mir geholfen, wenn ich für Reden Hilfe brauchte, für die Ansprache zum Tag der Kranken zum Beispiel oder für die Jubiläumsrede Dada, bei der ich dann die Lorbeeren alleine abholte.  Er hat mich getröstet, wenn mir etwas schieflief, ohne mich zu belehren. Und das geschah nicht nur ein Mal. 

Literaturwissenschaft war ihm nicht elitäre Abschottung, nicht akademische Überheblichkeit. Literatur war für ihn das Grundwasser einer Gesellschaft, das allen zugänglich sein soll. Denen das nicht leichtfällt, ich zähle mich ausdrücklich dazu, hat er die Fenster auf Landschaften weit geöffnet, die sich hinter Gedichten, Romanen, und Bildergeschichten, wie dem Struwwelpeter, verbergen. Er hat uns prächtige Gärten und unheimliche Wälder zugänglich gemacht, Hintergründe, mögliche Verknüpfungen aufgezeigt, ohne dabei imperativ eine einzige mögliche Auslegung anzupreisen. Denn, so hat es Peter von Matt immer wieder umschrieben: Kultur paukt uns nicht eine einzige Interpretation eines Werkes ein. Das widerspräche dem Genom von literarischer Kunst. Es wäre Politik mit dem Vorschlaghammer. Merkmal der Literatur ist, dass sie erkundet, ertastet, interpretiert und diskutiert werden muss. 

Auch dies lehrte mich Peter von Matt. Ich danke ihm dafür. 

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