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Volker Kutschers Werk

In zehn Romanen in den Abgrund

20. Dezember 2025
Rolf App
Volker Kutscher, Kat Meschnik
Volker Kutscher, Kat Meschnik

In zehn Kriminalromanen hat Volker Kutscher den Untergang der Weimarer Republik und die Heraufkunft der Nazidiktatur in Deutschland lebendig werden lassen. Jetzt legt er nach mit einer Befragung seiner Hauptfigur Gereon Rath, die aus den Fugen gerät.

Da ist ein Historiker, der im Jahr 1973 den Bewohner eines Seniorenheims im Berliner Westend besucht, um mit dem 74-jährigen Gereon Rath über seine Zeit bei der Polizei zu sprechen und über Kontinuitäten zwischen Weimarer Republik, nationalsozialistischer Diktatur und Bundesrepublik Deutschland. Singer lässt das Tonband mitlaufen, Rath gibt Auskunft, zuerst widerwillig und gern ein wenig belehrend. Er verbittet sich Fragen privater Natur, dann aber nimmt das Gespräch mehrere ganz unerwartete Wendungen. Es geht um Sebastian Tornow, der unter den Nazis in der berüchtigten SS Karriere macht und an Massenerschiessungen beteiligt ist, und es geht um seinen ehemaligen Chef Wilhelm Böhm, der in der DDR ins Gefängnis kommt.

Singer lässt das Tonband mitlaufen …

Ein letzter Auftritt für den Kommissar 

So endet, was Volker Kutscher, Verfasser dieses kammerspielartigen Textes, 2007 mit «Der nasse Fisch» begonnen hat. Es ist der letzte Auftritt des Berliner Kriminalkommissars Gereon Rath, eines Mannes, der, impulsiv, wie er in vielen Situationen handelt, ganz gewiss kein Held ohne Fehl und Tadel ist. Sondern eine in Teilen problematische, aber auch sehr realitätsnahe Figur – ein «spannender Durchschnittsmensch», wie Kutscher selber Rath beschrieben hat. In zehn Romanen hat er so das Berlin der Dreissigerjahre zum Leben erweckt, in «Babylon Berlin» hat das Fernsehen in mehreren Staffeln aufwendig nachgezogen. Zuletzt ist 2024 «Rath» erschienen, der mit der Reichpogromnacht im November 1938 endet – an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust. 

Parallel hat Kutscher dieser Serie raffinierter Romane drei kleinere Bücher zur Seite gestellt, die den Hauptfiguren gewidmet sind. Nach Charlotte Rath (genannt Charly) in «Moabit» (2017) und Fritze Thormann («Mitte», 2021) kommt in «Westend» als Letzter Gereon Rath zu Wort in einem aufwendig gestalteten und liebevoll von Kat Menschik illustrierten Buch. Zwei unaufgeklärte Polizistenmorde von 1931 verbinden sich hier mit Ereignissen, die sich 1953 in Ostberlin zugetragen haben.

West Ende

«Ein einzigartiges Projekt»

Gereon Rath reagiert oft ungehalten, als ihn der erstaunlich gut informierte Historiker befragt. Als der ihn nach Andreas Lange befragt, der in Minsk an Massenerschiessungen beteiligt war, Jahre, nachdem Rath sich in die USA abgesetzt hatte und für tot erklärt worden war, sagt er: «Hören Sie, davon weiss ich nichts, das hat mich nicht interessiert. Aber ich frage mich, woher Sie das alles wissen.» «Das ist meine Arbeit», antwortet Dr. Singer. «Ich bin Historiker, ich sichte Archive und werte Dokumente aus.» Worauf Rath entgegnet: «Und trotzdem verstehen Sie nichts.» Und, später im Gespräch: «Was wissen Sie schon? Junger Mann, Sie sollten sich eines vorschnellen Urteils enthalten, Sie haben die Zeiten damals nicht miterlebt.»

Die Zeiten damals: Sie haben den heute 62-jährigen Volker Kutscher fasziniert, seit er Erich Kästner gelesen hat. Er hat als Journalist gearbeitet, dann einige Regionalkrimis geschrieben, bevor er sich in sein Grossunternehmen gestürzt hat, das die «Tageszeitung» taz als «ein einzigartiges Projekt» bezeichnet hat und als «die Erzählung des Übergangs von der Weimarer Republik ins NS-Deutschland mit den Mitteln der Populärliteratur». 

«Trotzdem müssen wir gut aufpassen»

Er selber hat in der «Zeit» zu seinen Motiven gesagt: «Ich möchte Denkanstösse geben, meine Leser der historischen Wirklichkeit etwas näherbringen.» Zwar warne er davor, in den heutigen Krisen immer gleich Weimarer Verhältnisse heraufzubeschwören – ohnehin seien damals, als er 2003 begonnen habe mit dem Recherchieren, die heutigen Entwicklungen mit dem Aufstieg der AfD gar nicht absehbar gewesen. «Trotzdem müssen wir gut aufpassen, die Fehler unserer Vorfahren nicht zu wiederholen, nicht wieder in den Abgrund zu taumeln. Wir müssen erkennen lernen, wenn unsere Freiheiten unterminiert werden, wenn Rechtsstaat und freie Presse eingeschränkt werden.»

Allerdings: Die politische Botschaft läuft nur mit, sie stellt sich nie in den Vordergrund. «Rath», der letzte, zehnte Roman zeigt das noch einmal mustergültig. Da ist Charlotte Böhm, ehemals verheiratete Rath, die jetzt für den Privatdetektiv Wilhelm Böhm arbeitet, und deren ehemaliges Mündel Fritz Thormann verdächtigt wird, zwei Kameraden aus der Hitlerjugend ermordet zu haben. Da ist Gereon Rath, wegen seines todkranken Vaters heimlich aus den USA zurückgekehrt. Und da ist der verschlagene Sebastian Tornow, der ein umfangreiches Spitzelnetz unterhält, zu dem auch der Polizeibeamte Reinhold Gräf zählt, der Rath einst zu seiner Flucht verholfen hat. Und der nun in eine Zwickmühle gerät.

«Dass man in diesen Figuren drinnen ist»

In einer raffiniert komponierten Handlung blitzen wichtige Ereignisse vergangener Rath-Episoden auf. Was sich historisch verbürgt zugetragen hat, vermischt sich mit Erfundenem. Er habe, hat Kutscher gesagt, einfach schildern wollen, «wie die Zeiten damals waren. Und da lief das Schreckliche immer direkt neben dem normalen Alltag.» Mit den Mitteln der Fiktion wolle er Leserinnen und Leser emotional mitnehmen und so erreichen, «dass man in diesen Figuren drinnen ist und sich fragt: Was hätte ich getan?» Er selber könne «nicht mit Sicherheit sagen, was ich selbst getan hätte – oder tun würde. Wenn heute jemand beteuert, sie oder er hätte bestimmt im Widerstand gekämpft, da denke ich immer: Mit dieser Naivität wärst du sicher unter den ersten Mitläufern gewesen.»   

Volker Kutscher: Westend. Galiani-Verlag, Berlin 2025, 114 Seiten

Volker Kutscher: Rath – Der zehnte Rath-Roman. Piper-Verlag, München 2024, 624 Seiten

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