Der Bundesrat will kein Kopftuchverbot für Mädchen. Es gibt überzeugende Argumente gegen ein allgemeines Verbot des Kopftuches, doch es gibt ebenso einleuchtende Gründe dafür – ein echtes Dilemma mit einem leichten Plus für ein Verbot.
Der Bundesrat hat sich aufgrund eines Postulats der Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller mit der Frage befassen müssen, ob für Schülerinnen unter 16 Jahren ein Verbot des Kopftuchs angebracht wäre. In seinem Ende Oktober veröffentlichten Bericht hat er sich gegen ein Verbot entschieden. Wichtig ist ihm, dass alle Mädchen am Turn- und Schwimmunterricht teilnehmen. Für die Schulen und das Verhältnis zwischen Kirche und Staat seien die Kantone zuständig. Zudem wäre ein generelles Kopftuchverbot an öffentlichen Schulen nach Auffassung des Bundesgerichts verfassungswidrig. Der ausführliche Bericht des Bundesrats behandelt ganz allgemein das Tragen des Kopftuchs bei Musliminnen.
Verhüllungsverbot vom Volk angenommen
In der Schweiz gilt an allen öffentlich zugänglichen Orten das Verhüllungsverbot. Die entsprechende Volksinitiative wurde im März 2021 angenommen. Das Verbot gilt beispielsweise für die Burka, aber nicht für das Kopftuch, das die Haare bedeckt, aber nicht das Gesicht. (Für die Vermummten des schwarzen Blocks gilt das Verbot offensichtlich auch nicht.)
Die von der Verfassung garantierte Religionsfreiheit erlaubt öffentlich sichtbare Kennzeichen, doch niemand dürfe eine Frau zwingen, ein Kopftuch zu tragen. Weiter darf gemäss Bundesverfassung niemand diskriminiert werden; ein allgemeines Kopftuchverbot sei daher nicht zulässig.
Unterwerfung oder Selbstbestimmung?
So weit, so klar, doch bei genauerer Betrachtung wird es spannend. Das Kopftuch als sichtbares Symbol für Musliminnen kann eine negative Bedeutung haben. Es kann als Unterordnung und Unterwerfung der muslimischen Frauen und Mädchen in einer patriarchalen Gesellschaft betrachtet werden. Das Kopftuch wird im Gegensatz zu anderen Glaubenssymbolen nicht allein als Glaubensbekenntnis betrachtet. Als Ausdruck einer patriarchalen Familientradition mit ihrem strengen Rollenverständnis von Frau und Mann ist es unvereinbar mit den verfassungsrechtlichen Zielen der Gleichstellung der Geschlechter heisst es im Bericht.
Aber: Das Kopftuch kann gemäss Bundesgericht auch einen emanzipatorischen Charakter haben. Die Emanzipation der Kopftuchträgerin drücke sich darin aus, dass sie arbeite, finanziell unabhängig sei und selbständig ihren Partner wähle. In der ehelichen Beziehung strebten diese Frauen eine gerechte Teilung der Haushaltaufgaben an. Hinsichtlich der Sexualität erwarteten diese Frauen von ihren Männern die gleichen vom Islam gebotenen Verhaltensweisen, die sie selber befolgten. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass im Einklang mit dem religiös und weltanschaulich neutralen Staat die Musliminnen das Recht hätten, selber zu bestimmen, ob sie ein Kopftuch tragen. Das Kopftuch sei in der Schweiz nicht zwingend ein Hinweis für die Unterdrückung der Frau.
Frauen sollen selbst entscheiden
Kaltërina Latifi, die schweizerische Literaturwissenschaftlerin mit kosovarischen Wurzeln, lehnt diese kopftuchfreundliche Haltung von Bundesrat und Bundesgericht ab. Sie sieht darin eine bedenkliche Naivität und eine falsche Toleranz, wie sie in einer Kolumne von «Das Magazin» letzthin geschrieben hat. Das Kopftuch sei eben kein religiöses Symbol wie jedes andere, beispielsweise eine Halskette mit einem Kreuz. Nicht nur weil eine Halskette diskret unter der Bluse getragen werden könne, sondern weil sowohl Frauen wie Männer eine solche Kette tragen könnten. Das Kopftuch hingegen sei allein für Frauen bestimmt. Das sei Ausdruck von Frauenfeindlichkeit und ein Zeichen dafür, das der Ehemann und die Imame das Sagen haben. Das Kopftuch stehe daher in krassem Gegensatz zur Gleichberechtigung.
Was gilt jetzt? Das Kopftuch akzeptieren oder verbieten? In der Online-Zeitung «Republik» setzte sich eine junge Frau kürzlich uneingeschränkt für die freie Wahl ein: «Wahre Emanzipation heisst: Frauen entscheiden selbst, was ein Kleidungsstück bedeutet und ob sie es tragen.»
Schutz der einen, Bevormundung der anderen
Dem könnte man vorbehaltslos zustimmen, sofern alle muslimischen Ehemänner und die Imame den Frauen garantieren würden, frei entscheiden zu können, ob sie das Kopftuch tragen oder darauf zu verzichten. Soweit sind wir jedoch auch in der Schweiz noch lange nicht. Das Verbot wäre für jenen Teil der Frauen, die gegen ihren Willen das Kopftuch tragen, eine wünschenswerte Lösung. Andererseits wäre es eine Bevormundung für jene Frauen, die sich aus eigenem Antrieb für das Kopftuch entscheiden. Es gibt nicht die Lösung für alle: Wir befinden uns in einem Dilemma.
Da ich den Eindruck habe, in mehreren Ländern nehme der Druck islamischer Institutionen und der Gesellschaft zu, das Kopftuch zu tragen, könnte sich die Waage leicht zu einem Verbot des Kopftuchs neigen. Eine heikle Wahl, die zu treffen ich noch nicht in der Lage bin.