Die ungeschriebene Feuerpause zwischen Iran und Israel ist brüchig, sie lässt alles offen. Es ist nicht mehr als eine Atempause, in der nichts sicher ist. Khameneis «Republik» befindet sich in einem Schwebezustand. Diese Tage sind keine Nach-, sondern eher eine mögliche Vorkriegszeit.
Die Dimensionen dessen, was geschehen ist, bleiben im Dunkeln. Der gesamte iranische Militärapparat ist zwar praktisch enthauptet. Ob aber auch das iranische Atomprogramm bereits der Geschichte angehört, oder ob es nur für einige Jahre lahmgelegt oder gar fast vollständig intakt ist, bleibt nach dem zwölftätigen Bombardement ungewiss. Die Bandbereite für Propaganda ist immer noch sehr breit und nach allen Seiten offen. Gründe, Vorwände und Anlässe für einen künftigen Krieg sind ausreichend vorhanden.
Vom Islamismus zum Nationalismus
Die Islamische Republik liefert wie immer keine glaubwürdigen Informationen, und das, was Israel bzw. die USA über ihren Krieg der Öffentlichkeit preisgeben, sind Angaben ihrer Geheimdienste.
Was wird aus der Islamischen Republik, was aus Khameneis Lebensmission und, noch wichtiger, was aus der territorialen Integrität Irans? Es kann, es wird nicht so bleiben wie es ist. Die Post-Khamenei-Ära beginnt in einer sehr gefährlichen Atmosphäre. Die Suche nach Mossad-Spionen ist, offen und versteckt, im vollen Gange.
Propagandisten haben umgeschaltet; vom Islamismus auf Nationalismus und Patriotismus. Neben schiitischen Märtyrern tauchen auf den Plakaten und in offiziellen Medien Figuren aus der vorislamischen Mythologie auf. Alte Nationalhymnen werden aus den verstaubten Archiven herausgeholt und oft mit schiitischer Konnotation vermengt.
Massenhafte Deportation afghanischer Flüchtlinge
Unmittelbar nach dem Zwölftagekrieg begann die Jagd auf afghanische Flüchtlinge. Bis zum Niederschreiben dieser Zeilen sind 717’685 afghanische Flüchtlinge deportiert worden, meldet das iranische Innenministerium. Warum diese Menschenmasse plötzlich aus dem Land vertrieben werden muss, dafür liefert die Propagandamaschine eine unendliche Liste der Rechtfertigungen. Sogar von Mossad und Spionage ist die Rede. Über die Einzelschicksale dieser Menschen und die Umstände dieser gewaltsamen Massenrückführung liessen sich Bände füllen.
Gegen diese Remigration «à la islamische Republik» regen sich kein Widerstände, keine Proteste. Die Menschen haben andere Sorgen, sie sind sich nicht mal ihrer eigenen Zukunft sicher. Auf der Suche nach Spionen und Kollaborateuren der «Zionisten» ist dieser Tage alles gerechtfertigt.
Anhaltende israelische Lufthoheit über Iran?
Ist ein friedlicher Übergang zu einer Post- Khamenei-Ära möglich? Kann die zersplitterte Opposition sich einigen? Und wer wird ein Wiederaufflammen eines erneuten Brandes verhindern können, der sich diesmal zu einem sehr grossen Flächenbrand entwickeln könnte?
Ein beseitigter Tumor könne immer wieder Metastasen bilden, das gelte es zu verhindern, sagte Benjamin Netanjahu am 5. Juli 2025 bei einem Dinner im Weissen Haus. Tags zuvor hatte sein Verteidigungsminister Israel Katz verkündet, seine Armee habe die totale Luftfreiheit über den Iran, auch das gelte es zu bewahren, Netanjahus Gastgeber nickte an diesem Abend alldem zustimmend zu und fügte hinzu, sie sollten aufhören «Tod Amerika», «Tod Israel» zu rufen. Diese «sie» ist nicht als Plural gemeint, das ist in Wahrheit ein «Er».
Offener Brief von 180 iranischen Professoren
Wie der Zufall es will, haben praktisch kurz nach dem Washingtoner Dinner 180 iranische Universitätsprofessoren in einem offenen Brief an den Präsidenten Peseschkian genau aufgelistet, was getan werden muss, um eine fast sichere Katastrophe zu verhindern. Der Titel ihres Briefes lautet: «Totaler Paradigmenwechsel».
Der eigentliche Adressat des Briefes ist nicht Peseschkian, das wissen die Briefschreiber selbst. Doch sie wissen auch, «ihn», den Gottesvertreter kann man, darf man nicht belehren. Um den totalen Niedergang des Landes zu verhindern, zählen die Wissenschaftler unmissverständlich auf, was in diesen historischen Tagen zu tun ist. Wer will, kann es hören.
Zu allererst schreiben bzw. warnen sie: «Die territoriale Integrität des Landes gilt es zu bewahren.»
Dafür fordern sie:
- eine Garantie der Meinungs-und Redefreiheit
- Freilassung politischer Gefangener und Ende der Hausarreste
- Ende des Monopols einer kleinen Gruppe über Funk und Fernsehen
- Neumodellierung des gesamten Sicherheitsapparats
- gründliches Umkrempeln der Wirtschafts-, Handels- und Währungspolitik, damit die systematische Korruption ein Ende findet.
Am Ende des Briefes werden die Wissenschaftler sehr deutlich:
«Ohne echte Beteiligung der Bevölkerung und ohne eine völlige Änderung der Aussenpolitik lässt sich keine dieser Forderungen realisieren.»
Ob der wahre Briefadressat diese Forderungen erfüllen will oder kann, ist mehr als fraglich. Dann bliebe von seiner «Republik» nur eine Hülle. Ausserdem lassen sich die Geister, die er in den 36 Jahren seiner Herrschaft um sich scharte, nicht so leicht in die Flasche zurückpressen. Zumal er selbst die Inkarnation dieses Geistes ist.
Wer will was?
Donald Trump sagt, Iran wolle und werde mit ihm verhandeln. In Anwesenheit Netanjahus verkündete er sogar, bald werde sein Sondergesandter Steve Wittkoff sich auf den Weg machen. Erst müssen die USA und Israel garantieren, dass sie nie mehr den Iran angreifen, dann sei man zu Verhandlungen bereit, sagt der iranische Aussenminister Abbas Araghtschi. Nicht nur das Datum erneuter Gespräche ist offen, auch das Ziel ist ungewiss. Wenn das Atomprogramm nicht mehr existiert, wenn Israel alle zwölf Wissenschaftler, die mit dem Bau der Sprengköpfe beschäftigt waren, in diesen zwölf Tagen ausfindig gemacht und umgebracht hat, worüber sollte dann verhandelt werden?
«Nie mehr ‹Tod Amerika›, ‹Tod Israel› rufen», ist ein sehr weites Ziel. Ali Khamenei lebt in der Verborgenheit. Zwei Mal hat er sich seit dem Kriegsende kurz in der Öffentlich gezeigt. Er wirkte gebrochen, gealtert und verloren. Der einstige Grossrhetoriker schien abwesend.
Libyen als Modell?
Norwegen soll künftiger Verhandlungsort sein, wenn alle zustimmen sollten. Trump sagt, er wolle keinen Krieg mehr, und israelische Zeitungen schreiben, Netanjahu gebe sich nicht mit weniger zufrieden als mit einem «Libyen-Modell». Will heissen, genauso wie Ghaddafi 2003 unter strenger Aufsicht der Welt sein gesamtes Atomprogramm aufgab, so müsse es auch Khamenei heute tun. Das Wort Libyen assoziiert viel. Das völlige Verschwinden jeglicher Staatlichkeit, ein unendlicher Bürgerkrieg mit mehreren Machtzentren, kurzum, eine Hölle auf Erden.
Steht Iran nach Khameneis langer Herrschaft etwas Ähnliches bevor? Für- und Widerargumente füllen dieser Tage die sozialen Netzwerke. Die Verborgenheit ist eine schiitische Konstante. Der zwölfte Imam, in dessen Namen Khamenei regiert, lebt seit 1250 Jahren verborgen, regiert aber weiterhin die Welt.
Aus seinem Versteck erfülle der geehrte Führer die Rolle des Oberbefehlshabers mustergültig, schreiben ihm nahestehende Webseiten. Ob und wie der 86-Jährige sich für die totale Verborgenheit vorbereitet, wissen wir nicht, aber lange wird es nicht dauern und wir werden erfahren, wer die Diadochenkämpfe gewonnen hat. Die Revolutionsgarden verloren zwar durch den Krieg ihre Köpfe und sind für einen Krieg mit dem Ausland kaum brauchbar, dafür sind sie im Inneren präsenter denn je. Sie bestimmen, wohin die Reise geht.