Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will, dass in den Schulen wieder vermehrt das Geschehen im antiken Rom gelehrt wird. Dazu gehört auch die Geschichte vom Rubikon, den Julius Cäsar im Jahr 43 vor Christus überschritt. Doch kaum jemand, weder in Italien noch anderswo, weiss, wo dieser Rubikon liegt. Eine Spurensuche.
Melonis Bildungsministerium will den Geschichtsunterricht in den Primarschulen ganz auf das Altertum ausrichten. «Wir kennen zu wenig unsere Geschichte, unsere Wurzeln, unsere teils glorreiche Vergangenheit, die die westliche Kultur massgeblich mitprägten», sagte sie. Andere geben ihr recht: «Was wir über das alte Rom und Julius Cäsar wissen», heisst es, «wissen wir von Asterix und Obelix.» Vertiefte Kenntnis gebe es nicht. Auch Latein soll wieder gelehrt werden – als Freifach.
Zwar kennen fast alle die Geschichte von Cäsar, der am 11. Januar 43 vor Christus zögernd den Rubikon überschritt und dabei sagte: «Der Würfel ist gefallen.» Doch wo liegt dieser Rubikon? Gibt es ihn überhaupt? Ist das Flüsschen, das wir heute Rubikon nennen, wirklich der Rubikon? Wenn wir Italiener und Italienerinnen fragen, wo denn dieser Rubikon liegt, hören wir Antworten wie «in Frankreich» (Cäsar führte in Gallien Krieg), «im Südtirol», «beim Comersee», «vor den Toren Roms» – alles falsch.
Kleine Geschichtskunde
Im ersten Jahrhundert vor Christus herrschten in Rom gleich drei Männer: Cäsar, Pompeius und Crassus. Julius Cäsar war in diesem Triumvirat die schwächste Figur. 53 vor Christus starb Crassus. Pompeius versuchte jetzt, sich als Alleinherrscher aufzuschwingen und Cäsar auszuschalten.
Cäsar, brutaler, charismatischer und genialer Feldherr, war dabei, in Gallien (Frankreich, Belgien, Luxemburg, Westschweiz, Norditalien) Krieg zu führen. Nachdem er fast alle Stämme unterworfen hatte, machte er sich auf den Rückweg nach Rom, begleitet von seinem Heer, das aus 13 Legionen bestand. Doch er wusste: Sein Widersacher Pompeius und viele Senatoren würden alles tun, um ihn aus dem Weg zu schaffen.
So gelangte er an den Rubikon. Dieser stellte die Grenze zwischen dem römischen Kernland und der Provinz Gallien (Gallia Cisalpina) dar. Cäsar war sich bewusst: Würde er mit seinen Soldaten ins italienische Mutterland einfallen, würde der Bürgerkrieg ausbrechen.
Jetzt gibt es kein Zurück
Er zögerte lange. Laut der Biografie des römischen Schriftstellers Sueton soll er gesagt haben: «Noch können wir zurück; wenn wir diese kleine Brücke (über den Rubikon) überschreiten, dann werden die Waffen alles entscheiden.» Plötzlich sah er – laut Sueton – ein «göttliches Zeichen». Das bewog ihn zum Einfall ins italienische Kernland. Auf Latein sagte er: «Alea iacta est.» («Der Würfel ist gefallen.» Oder: «Die Würfel sind gefallen.» Oder: «Der Würfel ist geworfen.»)
Im Klartext bedeutet dies: Ich habe mich entschieden, ich ziehe nach Rom und kämpfe gegen Pompeius und die Senatoren. Jetzt kann ich nicht mehr zurück.
Begleitet von der kampferprobten «Legio XIII Gemina»
Plutarch erzählt eine ähnliche Geschichte auf Griechisch. Cäsar soll sich vor der Überquerung des Rubikon ausgemalt haben, welches Unheil das für die Nachwelt haben könnte. Doch dann habe er sich entschieden. Mit lauter Stimme sagte er auf Griechisch: «Hochgeworfen sei der Würfel.» («Anerrìphtho kybos.»)
So überquerte er in den frühen Morgenstunden des 10. Januar 49 vor Christus den Rubikon. Begleitet wurde er nur von einer einzigen seiner 13 Legionen: der berühmten kampferprobten «Legio XIII Gemina». Sie bestand aus 5’000 Mann und 300 Reitern. Die zwölf anderen Legionen liess er aus taktischen, psychologischen und politischen Gründen vorerst zurück. Mit einer kleinen Einheit konnte er überraschen und schnell vorrücken. So fielen mehrere Städte kampflos in seine Hände. Und tatsächlich: Pompeius war überrumpelt und hatte keine Zeit, seine Kräfte zu mobilisieren. Cäsar wusste zudem: Bei Bedarf konnte er die nördlich des Rubikon zurückgelassenen 12 Legionen zur Verstärkung aufbieten. Pompeius verliess Rom und wurde später geschlagen.
Dann kam Mussolini
Laut offiziellen Quellen mündet das damalige Grenzflüsschen Rubikon südlich von Ravenna in die Adria. Die Wissenschaftler waren sich lange Zeit nicht ganz einig, ob der «offizielle Rubikon» wirklich «Cäsars Rubikon» (Italienisch: Rubicone) ist.
Dann kam Benito Mussolini. Er hatte beim Städtchen Savignano di Romagna eine Villa. In der Nähe mündete ein kleiner Fluss mit dem Namen «Fiumicino» in die Adria. Der Bürgermeister des Städtchens war überzeugt, dass dieser Fiumicino der eigentliche Rubikon sei und überzeugte Mussolini. So erliess der Diktator 1932 ein Dekret. Es besagt, dass der Fiumicino der Rubikon ist. Das Städtchen Savignano di Romagna wurde umgetauft in «Savignano sul Rubicone».
Verschobene Flussläufe
Doch ist das wirklich der Rubikon? Oder ist Mussolini einer Phantasie des Bürgermeisters aufgesessen? In dieser Ebene gibt es mehrere Gewässer. Und der Lauf dieser kleinen mäanderförmigen Flüsse hat sich im Laufe von über 2000 Jahren da und dort durch Überschwemmungen verschoben. Zwar könnte die Aufschrift auf einem Meilenstein darauf hindeuten, dass Mussolinis Rubikon tatsächlich der antike Rubikon ist. Doch Historiker zweifeln. Alte Daten besagen lediglich, dass der antike Rubikon zwischen den alten Städten Rimini und Cesena floss.
Die «Tabula Peutingeriana», eine Karte des Strassennetzes im spätrömischen Reich, zeigt in diesem Gebiet mehrere Flüsschen, die sich als Rubikon empfehlen. So unter anderem der Fluss «Uso», der 15 Kilometer vom offiziellen Rubikon entfernt liegt. Oder der Pisciatello, ein linker, 31 Kilometer langer Nebenfluss des offiziellen Rubikon, der in Hügeln der Provinz Forlì-Cesena entspringt. Der Pisciatello und der offiziell anerkannte Rubikon können leicht verwechselt werden, da ihre Quellen im selben hügeligen Gebiet entspringen.
Zweifel
Allerdings wurden kürzlich bei Gatteo Überreste einer römischen Militärsiedlung entdeckt. Archäologen schliessen deshalb nicht aus, dass der offizielle Rubikon der antike Rubikon ist. Doch Zweifel bleiben bestehen. Es sei heute nicht möglich zu sagen, welches der «wahre Rubikon» sei, betonen mehrere Wissenschaftler.
Beim offiziellen Rubikon handelt es sich um einen 40 Kilometer langen Fluss, der in den Apenninen als Bächlein entspringt.
Dank einigen Nebenflüssen wird er dann zu einem Fluss.
Bei «Gatteo a Mare» mündet er als stolzer, breiter Fluss in die Adria.
Kurz vor der Mündung wurde vor knapp zwanzig Jahren eine steinerne und hölzerne Fussgänger- und Velobrücke gebaut. Sie trägt den Namen «Giulio Cesare». Wo Cäsar den Rubikon überquerte, ist nicht überliefert. In der Mitte der Brücke wurde eine Büste von Cäsar angebracht (Bild siehe oben). Darunter die Inschrift: «Il dado è tratto» (Der Würfel ist gefallen). Die Brücke war ursprünglich mit Kupferplatten verkleidet. Doch diese wurden gestohlen.
Nahe der Mündung befindet sich die «Pizzeria Orfeo». Fragt man dort die Leute, ob sie glauben, dass dies der wirkliche Rubikon sei, zucken die meisten die Schultern. Der Pizzaiolo sagt: «Ist doch gut fürs Geschäft.»
Bald werden Hunderte italienischer Schulklassen aus dem ganzen Land an den Rubikon fahren. Dort werden ihnen Lehrerinnen und Lehrer – auf Anordnung von Melonis Bildungsministerium – mehr über das antike Rom, über Julius Cäsar erzählen.
Doch wenn dann die Schülerinnen und Schüler am Ufer des offiziellen Rubikon stehen, stehen sie vielleicht am falschen Rubikon.