
Die Kriegsmetapher schleicht sich jetzt auch in universitären Gefilden ein – im Reich der Ideenfreiheit, der Suche nach Wahrheit, der Faktentreue. Wir brauchen ein neues Ethos der Forschung.
Sheila Jasanoff, Professorin für Wissenschaftspolitik an der Harvard University, spricht in einem rezenten Artikel der ZEIT vom «Bürgerkrieg der Ideen»[1]: «Auf der einen Seite kämpfen die Verfechter des Glaubens, dass die Wissenschaft uns die besten Antworten auf die meisten sozialen Probleme gibt; auf der anderen Seite kämpfen Menschen, die glauben, dass die Wissenschaft in Amerika von einer ‘Big Government’-Ideologie vereinnahmt wurde. Sie wollen Forschungseinrichtungen wie die National Institutes of Health auflösen, um die Wissenschaft von Grund auf neu aufzubauen.»
Die Kriegsmetapher ist überspitzt, aber sie akzentuiert durchaus ein Problem. In modernen Gesellschaften gilt die wissenschaftliche Expertise als Erkenntnisautorität. Corona-Epidemie und Klimawandel haben indes den Ruf der Experten nicht gefördert. Er wird vielmehr herausgefordert durch Leute, die glauben, mit einer zusammengestümperten Do-it-yourself-Theorie in Konkurrenz zum gesammelten Wissen einer Disziplin treten zu können; die zum Beispiel Bleichmittel gegen das Coronavirus einnehmen oder ihren Prostatakrebs mit einem Entwurmungsmittel für Pferde behandeln.
MAHA – Make America Healthy Again
Solange die wissenschaftliche Autorität als unbestritten galt, liess sich eine solche «Paria»-Mentalität leicht marginalisieren. Aber das Klima hat sich gewandelt. Heute ist ein «Paria» Gesundheitsminister der USA. Bereits in der kurzen Amtszeit von Robert Kennedy Jr. deutet sich an, was Sheila Jasanoff mit der Auflösung von Forschungseinrichtungen und dem Neuaufbau der Wissenschaft meint.
Kennedy hatte sich vor allem als Kritiker der Pharma- und Lebensmittelindustrie profiliert, allerdings auch mit wilden Hypothesen über den Zusammenhang von Massenschiesserei und Antidepressiva, Impfen und Autismus, Chemikalien im Wasser und sexueller Orientierung. Er scheint sich jetzt in der Rolle als «pain in the ass» des wissenschaftlichen Establishments zu gefallen. Er steht im Ruf des Schlangenölverkäufers[2] und Förderers von «Junk Science».[3] Kürzlich empfahl er bei einem Masernausbruch in Texas ein Präparat aus Kabeljauleber als Alternative zum Impfen.[4] Kennedy fördert nicht nur Pseudowissenschaftler, er attackiert zugleich ausgewiesene Forscher.[5] Man muss sich vor Augen halten: Das amerikanische Gesundheitsministerium, das Department of Health and Human Services, verfügt über ein gewaltiges Budget – um die 1,8 Billionen Dollar –, und sein Vorsteher hat eine entsprechende Machtfülle, die medizinische Forschung in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken, indem er Gelder für bestimmte Projekte kürzt und missliebige Wissenschaftler entlässt. Man hat Kennedys Parole «Make America Healthy Again» (MAHA) schon als «neuen Lyssenkoismus» bezeichnet[6], in Anspielung auf die dirigistische Forschungspolitik unter Stalin.
Die Krise des wissenschaftlichen Expertentums
Personalisieren wir das Problem nicht über Gebühr. Denn Kennedy ist eigentlich nur Symptom einer schon länger anhaltenden Krise des wissenschaftlichen Expertentums, allgemeiner: einer Krise der Erkenntnis. Man kann 1975 als das Schlüsseljahr betrachten, in dem diese Krise einsetzte. Damals erschien das Buch «Against Method» des Wissenschaftsphilosophen Paul Feyerabend. Er leugnete darin den Anspruch der modernen Wissenschaft, die alleinige Erkenntnisinstanz zu sein. Vielmehr gelte: «Anything goes». Auch Alchemie, Astrologie oder paracelsische Medizin seien durchaus ernstzunehmende Ansätze in der Erklärung von Phänomenen, und ihre Disqualifizierung müsse einer arroganten wissenschaftlichen Siegergeschichtsschreibung angelastet werden. Im Geiste dieser «Anarchie» begannen in den 1980er Jahren die sogenannten «Science studies» die Deutungs- und Geltungsmacht der Wissenschaft schärfer zu analysieren. Hier hat sich besonders der als Popstar gefeierte französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour hervorgetan (gestorben 2022), mit seiner These, Wissenschaft liefere keine objektiven Fakten, Fakten seien «gemacht». Und damit war natürlich der logische Schritt zu den «alternativen» Fakten-Fabrikanten vorbereitet.
Postnormale Wissenschaft
Nach gängiger Auffassung ist Wissenschaft ein wertfreies, rein der Wahrheit verpflichtetes Erkenntnisunternehmen. Aber sie bekommt es zunehmend mit «verunreinigten» Problemen zu tun. Dadurch ändert sich ihr Charakter. Die Philosophen Jerome Ravetz und Silvio Funtowizc prägten den Begriff «postnormale Wissenschaft». Postnormalität bedeutet, grob formuliert: Die Probleme sind wertgeladen, die Werte widerstreitend, Lösungen sind dringend, aber meist suboptimal, die Datenlage ungewiss, uneindeutig oder umstritten, und viel steht auf dem Spiel. Der «normale» Ansatz der Forschung, komplexe Probleme in fachinterne, disziplinäre «Rätsel» zu übersetzen und sie dergestalt behandelbar und lösbar zu machen, greift deshalb auf vielen neuralgischen Gebieten zu kurz.
Das hat die Corona-Pandemie exemplarisch vor Augen geführt. Auf den ersten Blick war das Interesse ein spezifisches: Krankheit eindämmen, den Tücken des Virus auf die Schliche kommen. Also fachliche Erkenntnis. Sie erfordert die Kompetenz von Virologen, Infektiologen, Epidemiologen, Pharmakologen. Im weiteren aber auch von Zoologen und Ökologen. Sie studieren die Ansteckungswege, die dem Virus über Wirttiere offen stehen, etwa Fledermäuse, Zibetkatzen oder Schuppentiere. Schliesslich tauchen soziale Kollateralprobleme auf, etwa die Frage, wie die wissenschaftlich empfohlenen Massnahmen das soziale Leben beeinträchtigt, die wirtschaftliche Grundlage von Menschen zu ruinieren droht, den sozialen Zusammenhalt schwächt, wie der Schulunterricht durchzuführen ist, wie man in Spitälern eine Triage vornehmen muss. Alle diese Fragen sind ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger als die fachdisziplinären – zumindest für den Laien. Denn er ist am Ende die «Labormaus», an der sich all die Forschungsanstrengungen zu bewähren haben. Und er soll dabei einfach schweigen?
Gegen die postfaktischen Unsitten
Kurz, die im weitesten Sinn «virulenten» Probleme moderner Gesellschaften lassen sich in der Regel nicht aus einer einzigen Perspektive definieren, geschweige denn lösen. Wie dies der Virologe Christian Drosten kürzlich ausdrückte: «Wenn die Gesellschaft ein Problem hat und man so oder eben auch so mit der Sache umgehen kann – oder sogar muss –, dann wird es politisch».[7]
«So oder eben auch so mit der Sache umgehen» – das umreisst bündig die aktuelle Lage der Wissenschaft. Sie definiert «die Sache» auf ihre Weise, aber sie kann diese Weise nicht mehr einfach als Selbstverständlichkeit begründen. Fakten sprechen nicht selber. In ihnen drücken sich bestimmte wissenschaftliche Haltungen aus. Wie Drosten bemerkt, seien es «die Wissenschaftler noch nicht gewohnt, Faktizität verteidigen zu müssen. Unsere Ausbildung lag noch vor der postfaktischen Ära». Deshalb müssten die Wissenschaftler «dringend darüber reden, welche Verpflichtungen die Gesellschaft (ihnen) mit der Wissenschaftsfreiheit auferlegt». Objektivität und Faktentreue sind sicher nach wie vor die Pflicht. Aber dazu tritt eine zweite, nämlich die Pflicht, offensiv den postfaktischen «Unsitten» entgegenzuwirken, welche die Institutionen der Erkenntnissuche zu destabilisieren trachten. Das ist kein «Krieg», sondern die aufklärerische Aufgabe, ein neues wissenschaftliches Ethos zu formulieren, das die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft festigt – für eine postpostfaktische Ära, die hoffentlich immer noch im Zeichen der Demokratie steht.
[1] https://www.zeit.de/2025/23/harvard-universitaet-sheila-jasanoff-hochschule-donald-trump-wissenschaft
[2] https://www.ksfr.org/government/2025-02-14/heinrich-on-rfk-jr-snake-oil-salesman
[3] https://www.newyorker.com/news/the-lede/the-junk-science-of-robert-f-kennedy-jr
[4] https://www.nytimes.com/2025/03/25/health/measles-kennedy-vitamin-a.html
[5]https://nymag.com/intelligencer/article/trump-rfk-jr-maha-quacks.html
[6] https://sciencebasedmedicine.org/make-america-healthy-again-the-new-lysenkoism/
[7] https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/christian-drosten-ueber-freiheit-und-pflicht-der-wissenschaft-110513754.html