
Der Komplexitätsforscher David Wolpert vom Santa Fe Instutute in Arizona hat kürzlich die Frage aller Fragen gestellt: Was können wir von Dingen wissen, die vorzustellen wir nicht fähig sind?[i]
Die Frage zielt ab auf die Grenze menschlicher Intelligenz. Oder genauer: auf zwei Grenzen. Eine Grenze, die uns gesetzt ist, weil wir noch nicht über die nötigen konzeptuellen Mittel verfügen, über sie hinaus zu gelangen. Und eine Grenze, die wir aufgrund unserer kognitiven Konstitution nicht übersteigen können.
Fausts Erdgeist
Nennen wir sie die «faustische» Grenze. Bekanntlich strebt ja Goethes Faust nach einem höheren übermenschlichen Wissen. Und er beschwört den allgegenwärtigen Erdgeist, ihm dieses Wissen zu liefern: «Der du die weite Welt umschweifst, geschäftiger Geist, wie nah fühl ich mich dir!» Dieser aber wendet sich mit schroffem Spott ab: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst. Nicht mir!»
In dieser kurzen Sequenz verdichtet sich die ganze, buchstäblich teuflische Dramatik der modernen Wissenschaft. Sie steht heute mit der Erforschung von fremden Intelligenzen an dieser faustischen Grenze. Und fremde Intelligenzen sind sowohl Formen der Intelligenz jenseits unserer Spezies, als auch künstliche Formen jenseits aller Spezies.
Der anthropomorphe Zirkel
Wolperts Frage ist nicht neu. Tatsächlich formulierte sie der britische Biologe John Burdon Sanderson Haldane vor fast hundert Jahren auf seine Weise: «Meiner Ansicht nach ist das Universum nicht nur sonderbarer («queerer»), als wir es uns vorstellen, sondern sonderbarer, als wir es uns vorstellen können.»
Er meinte damit genau die faustische Grenze – nicht dass das Universum das Verständnis der Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern generell übersteigt. Wir begreifen zum Beispiel Tiere letztlich in unserer eigenen Begrifflichkeit, insofern sie uns «gleichen». Sie haben Hunger, sie sind wütend, traurig, sie täuschen, sie begehren einander. Ja, sie kommunizieren miteinander, und wir sagen, der Austausch ihrer Signale sei «so etwas wie Sprache». Was ist das letztlich anderes als «menschlich»? Wir tragen also unsere spezifisch menschliche Perspektive immer schon in das Verstehen anderer Arten hinein. Wir bewegen uns in einem anthropomorphen Zirkel. Aber was wissen wir eigentlich, was in einem Tier vorgeht? Der Philosoph Thomas Nagel hat die emblematische Frage an der faustischen Grenze gestellt: Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?
Kognitive Exoten
Schon das Tierreich ist voller kognitiver «Aliens» mit ihren spezifischen Intelligenzen. Sie sind längst nicht erforscht. Die Zoologen berichten von erstaunlichen Speziesfähigkeiten, die ein ausgeklügeltes biologisches Design erfordern; vom Navigieren durch die Umgebung anhand von Lichtsignalen, über die Abwehr einer Vielzahl mikrobischer Attacken, bis zum Herausfiltern von spezieller Information aus dem Schwall gleichzeitiger Schallwellen («Cocktailparty-Effekt»). Wer weiss, welche Seltsamkeiten noch auf uns warten? Auf jeden Fall sollten wir uns von der Vorstellung lösen, allein der Homo sei sapiens. Auch das Tier ist es, auf seine artspezifische Weise. Animal sapiens.
Post-Evolution
Die kognitive Begrenztheit markiert also eigentlich eine Schwelle, den Anfang einer neuen Geschichte, der Geschichte der Post-Evolution. Schon menschliche Sprache und Kultur sind eine solche Überschreitung. Wenn aber unserem Verständnis natürliche Grenzen – durch unsere artspezifische Konstitution – gesteckt sind, warum den Verstand nicht artunspezifisch erweitern, verbessern? Postbiologisches und posthumanes Enhancement? Eigentlich ist Technik immer solches Enhancement unserer angeborenen Fähigkeiten gewesen. Auch Sprache und Kultur sind Enhancements. Und heute hat sie das Stadium der künstlichen – sprich: post-evolutionären – Intelligenz erreicht. Sie macht enorme Fortschritte, und ihre Gurus überbieten sich in Visionen einer Zukunft, in der sich der Mensch mit ebenbürtigen, wenn nicht überlegenen kognitiven Prothesen ausrüstet. Die lernenden aktuellen KI-Systeme leisten schon heute unentbehrliche Dienste auf datenintensiven Forschungsgebieten.
Beschleunigung der Evolution
In Biogenetik und -technologie haben in den letzten Dekaden atemberaubende Fortschritte stattgefunden. Sie sind im Begriff, Leben zu synthetisieren. 2015 nahm einer der Pioniere der Genom-Kartierung, Craig Venter, den Mund ziemlich voll: «Die biologische Evolution hat etwa vier Milliarden Jahre gebraucht, um uns dahin zu führen, wo wir sind. Die soziale Evolution ist viel schneller gewesen. Jetzt, da wir genetischen Code schreiben, ihn in digitale Sprache übersetzen und in synthetisches Leben rückübersezen können, ist es möglich, die biologische Evolution auf ein Tempo der sozialen Evolution hoch zu beschleunigen.» [ii]
2023 äusserte sich Venter bescheidener, schon fast in sokratischer Manier: «Gerade zum Zeitpunkt, als wir dachten, wir wüssten Bescheid über die Biologie, bis hin zum Punkt, wo wir den genetischen Code lesen und eine Zelle nach diesem Code designen können, fanden wir heraus, dass wir den grössten Teil der Biologie nicht kennen. Je mehr wir wissen, desto bewusster wird uns, was wir nicht wissen.»[iii]
Die erkenntnistheoretische Hybris
Venter spricht damit genau das Problem der Überheblichkeit an. Wir wissen viel und immer mehr über bestimmte Gebiete, wie zum Beispiel Genetik. Wir entwickeln unsere konzeptuellen und experimentellen Fähigkeiten stetig. Wir wissen viel über wenig. Aber wir haben ins Auge zu fassen, dass die Welt nicht bloss alles, was der Fall ist, sondern mehr als das menschlich Denkmögliche.
Man kann Goethes Memento so lesen: Wissenschaft lehrt uns viel. Sie kreiert beleuchtungsstarke theoretische Laternen, in deren Lichtkreis wir nach den Schlüsseln zu den Geheimnissen des Universums suchen. Das ist der Geist, den wir begreifen. Womöglich liegen die Schlüssel im Dunkel. Also muss man den Lichtkreis vergrössern. Aber wir können die Welt nicht aus der Perspektive jenseits des Lichtkreises verstehen. Das ist die Lektion von Goethes Erdgeist. Und sie bringt uns erkenntnistheoretische Demut bei. Wir tragen die faustische Grenze mit uns, in was für Bereiche wir uns noch bewegen werden.
[i] https://arxiv.org/abs/2208.03886
[ii] https://www.huffpost.com/entry/craig-venter-evolution-control_n_55e9ce7fe4b093be51bb5bb3