
Das Kulturmuseum St. Gallen wagt etwas Aussergewöhnliches: Eine historisch-philosophische Ausstellung, die anhand weniger Exponate den Grundfragen des Menschseins nachspürt. Raum und Zeit: Das sind die Dimensionen, in denen wir uns bewegen, von der Geburt bis zum Tod.
Das Universum beginnt mit dem Urknall, denken wir heute. Doch was war davor? Dieses gefragt, habe ein Astrophysiker am Rande einer Ausstellung über den Astronomen, Uhrenkonstrukteur und Mathematiker Jost Bürgi erklärt: Das sei eine sinnlose Frage. Das erzählt Peter Fux, Direktor des Kulturmuseums St. Gallen, als sich unser Rundgang durch die von ihm entworfene Ausstellung «Raum – Zeit – Geist» seinem Ende nähert.
Wie der Rabe das Licht verlor
Und getreu der von ihm gewählten Beifügung zum Ausstellungstitel – «Wir formen uns die Welt» – fügt er eine andere Ursprungsgeschichte der Welt an, die von den Haida Nordwestamerikas stammt. Sie handelt vom Raben, der durch die Nacht fliegt und dabei vernimmt, es gebe da einen Fischer mit einer geheimnisvollen Box. Das neugierige Tier fliegt hin, öffnet die Box, findet in ihr noch eine Box, und immer noch kleinere, bis die letzte das Licht enthält. Mit ihm im Schnabel entweicht der Rabe durch den Kamin (wobei er schwarz wird), und lässt es, ermüdet vom langen Flug, schliesslich fallen. Das Licht zersplittert, seine Teile springen zurück an den Himmel – und sind dort als Sonne, Mond und Sterne zu sehen. «Eigentlich», sagt Fux, «ist diese Erklärung genauso statthaft wie jene vom Urknall.»
Man kann darüber lange nachdenken, und obwohl die neue Ausstellung nur gerade einen grossen Raum füllt, regt sie immer wieder zum Nachdenken an, stellt Fragen, aber gibt keine Antworten. Was, zum Beispiel, bedeutet die Musik? Liegt in ihr, wie der Ethnologe Claude Levi-Strauss herausarbeitete, der Schlüssel zum letzten Geheimnis des Menschen? Ist sie eine universelle Sprache vor jeder menschengemachten Sprache? Eine Art Grundrauschen unserer Existenz? An einer Hörstation liest eine Schauspielerin aus Rüdiger Safranskis Nietzsche-Biographie aus dem Kapitel über seine Musikphilosophie.
Den Eingang zum geheimnisvoll dunklen Raum bildet eine Installation, auf deren Boden und an deren Seiten zwei Grundformen zu sehen sind: Kreis und Quadrat. Das Quadrat steht für Raum, der Kreis für Stagnation, Ineffizienz, Orientierungslosigkeit – oder für Tanz und Spiel. Um das lustvolle Drehen des Menschen um sich selbst. Und um die Zeit. Denn die Zeiger der Uhr drehen sich im Kreis. Schon dieser Einstieg zeigt: Der Mensch ist ein Symbolwesen, das hat der Philosoph Nelson Goodman in «Weisen der Welterzeugung» dargelegt. Er kann gar nicht anders, als in Symbolen zu denken, und so Verbindungen herzustellen. Das hat ihn weit gebracht: Von jenem kleinen, in Weimar gefertigten Himmelsglobus von 1798, der sichtbar wird, sobald hinter der einleitenden Installation das Licht angeht, bis zur künstlichen Intelligenz, illustriert durch einen selbstfahrenden Mini-Cybertruck, und zu einem Programm, in dem der Besucher spielerisch künstliche Intelligenz erkunden kann – mit Stichworten, zu dem das Programm dann Bilder liefert. Ich gebe «Oma» ein und bekomme drei junge und eine alte Frau. Ich gebe «Jim Knopf» ein und sehe ein schwimmendes Einhorn.
Jim Knopf und der Siphon
Fazit also: Die künstliche Intelligenz hat Phantasie, auch wenn sie vielleicht nicht übermässig intelligent ist. Jim Knopf war übrigens nicht zufällig gewählt. Munter leuchtet aus der Mitte der Ausstellung das Cover des Kinderbuchs von Michael Ende in den Raum, und durch ein Guckloch ist eine Szene aus dem dazu gedrehten Film zu sehen: Da wird ein Riese immer kleiner, je näher er kommt. Vielleicht ist das ja heute noch so, wenn man an die Riesen USA und Russland denkt.
Aber zurück zu Jim Knopf: Er besiedelt ebenso das Land unserer Phantasie wie das daneben platzierte Gedicht «Mondnacht» von Joseph von Eichendorff. Während rundherum die Realität herrscht. Zum Beispiel in Gestalt eines Siphon. Das ist jene Biegung in unseren Röhren, die, weil dort das Wasser stehen bleibt, von uns jene Gerüche fernhält, die wir selber produzieren. Was, wie Peter Fux erklärt, eine veritable zivilisatorische Leistung darstellt. Denn erst der Siphon erlaubt es uns, uns in unser Haus zurückzuziehen und näher an den Nachbarn heranzurücken.
Zweierlei Weltwahrnehmung
Wir nähern uns dem Ende unseres Rundgangs. Da ist ein Hocker, auf den man sich setzen und noch einmal die zwei Arten der Weltwahrnehmung ausprobieren kann: Im Kaleidoskop die bunte Welt zufällig zusammengewürfelter Farbsplitter, im nachgebauten Teleskop von Galileo Galilei einen undeutlich-verschwommenen Mond. Das ist der Raum, die Zeit ist präsent mit Pfeil und Bogen, weil sie unaufhaltsam und unumkehrbar nach vorne drängt. Aber wir überwinden sie: in der Erinnerung etwa an unsere Vorfahren. Ein ockerfarbenes Häufchen erinnert an uralte Bestattungsriten.
Das Ende der Ausstellung knüpft an den Beginn an. Da steht eine wunderschöne Appenzeller Hausorgel aus den Beständen des Museums. Während die Musik unser Ohr erreicht und Gefühle auslöst, flackern an der Wand daneben Wellenmuster auf und ab. Und werfen mehr als nur eine Frage auf.
Raum – Zeit – Geist. Kulturmuseum St. Gallen, bis 9.November