
Der Historiker und Lehrer Peter Lüthi war nach der Auflösung der Sowjetunion mehrfach in Russland und in der Ukraine als Lehrer und Berater von freien Waldorfschulen tätig. In diesem Text beschreibt er aufgrund seiner Erfahrungen die aktuellen Stimmungen in beiden Ländern und die Chancen für einen Waffenstillstand im Ukrainekrieg.
Ein Konflikt kann mit einem Frieden beendet werden, wenn bei den Konfliktparteien ein Sinneswandel eingetreten ist. Ich kann ihn bei Russlands Ukraine-Krieg bei keinem der Beteiligten feststellen. Möglich in kurzer Zeit, auch ohne Sinneswandel, einfach durch eine Neubewertung der egoistischen Interessen durch die beteiligten Mächtigen, ist ein Waffenstillstand. Es kann unter solchen Gesichtspunkten ein provisorischer, wenn auch unbefriedigender Vertrag ausgearbeitet werden, der auf unbekannte Zeit die Abwesenheit von Krieg ermöglicht.
Waffenstillstand oder Frieden?
Welches Gewicht man diesem Gut zugesteht bei der Abwägung der Güter, ist entscheidend für die Ermöglichung eines Waffenstillstands, und offenbar wurde es auf allen Seiten bisher geringgeschätzt. Für den Waffenstillstand braucht es weniger Ideologie und Prinzipien, dafür mehr Sachkompetenz und Pragmatismus, als sie bisher sichtbar wurden. Diplomatie ist eine Kunst, das heisst, sie arbeitet sich nicht mit Prinzipien, sondern mit Phantasie und Intuition in die konkreten Bedingungen hinein. Sie muss sich zuerst bescheiden darauf verstehen, gegenseitiges Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Todfeindes bei der Einhaltung der Absprachen hervorzurufen.
Die Hindernisse für einen dauerhaften Waffenstillstand, wenn nicht sogar zu einem Frieden, sind während der Kriegsjahre gesteigert worden, indem die beteiligten Regierungen ihre Bevölkerungen auf eine langfristige Fortsetzung des Krieges bis zum möglichen Endsieg über das Böse eingestimmt haben. Keine Regierung stimmte frühzeitig auf einen möglichen Kompromissfrieden ein. Darin besteht Symmetrie. Wenn man die auf beiden Seiten aufgebauten Feindbilder ernst nimmt, wären beide Parteien verpflichtet, den Krieg fortzusetzen, da der aktuelle Feind nie vertrauenswürdig sein kann und deshalb besiegt werden muss, wenn Frieden werden soll.
Hindernisse für einen Frieden in Russland, im Land der Angreifer
Die russische Regierung hat sich gegenüber ihrer Bevölkerung, auch gegenüber den Kindern und Jugendlichen, mit grösster Intensität darauf festgelegt, dass man in der Ukraine gegen Faschisten oder Nazisten Krieg führt und dass das von Anfang an als Kriegsgrund vorgebrachte Ziel erreicht werden muss: die Beseitigung des angeblichen Nazi-Regimes in Kiew. Ausserdem ist nach der neuen Staatsideologie auch der Kollektive Westen nicht nur als geostrategischer Rivale zu verstehen, sondern als Repräsentant des Bösen in einem Heiligen Krieg. Er will auf dem Umweg über die Ukraine Russland zerstören und damit die Menschheit in den Abgrund des Unmoralischen stürzen. Das ist Standard geworden in den russischen Medien.
Wie will die russische Regierung – vermittelt durch die gehorsamen Lehrer, Priester und Mediensprecher – vor den Kindern und Jugendlichen, vor ihren TV-Konsumenten und Gläubigen plötzlich bekennen, dass man sich geirrt hat, dass das absolute Böse gerade einen Sinneswandel durchgemacht hat und man den eben erst begonnenen Heiligen Endzeitkrieg schon wieder abblasen kann? Die «totale Militarisierung der Gesellschaft», die der grossrussische Ideologe Dugin forderte, ist schon auf dem Weg zur Verwirklichung. Der Glaube, dass der Krieger sowohl der wahre Mann sei wie auch der wahre Jünger Christi, wird in den Seelen verankert, und die Jugendorganisationen mit militärischer Ausbildung sowie der paramilitärische Unterricht in den Schulen werden zielstrebig vorangetrieben.
In täglichen Parolen und Ritualen, bei allen Schul- und Staatsfeiern, in den vom Patriarchen obligatorisch verfügten Gebeten ist ausschliesslich von Sieg die Rede, nicht von Kompromiss und Versöhnung. Priester, die in ihrem Gebet Sieg durch Frieden ersetzen, werden entlassen. Aber es zeigt sich schon in den ersten Tagen nach Trumps Kehrtwende gegen Kiew, dass Propaganda-Apparate kein Gedächtnis haben müssen und auf dasselbe bei ihren Hörern rechnen: Eine ewige Wahrheit von gestern kann heute vergessen sein. Vielleicht gelingt es vor den Untertanen, die USA aus dem Bösen, dem Kollektiven Westen, herauszulösen, wenn Europa und Selenskyj weiterhin diese Rolle spielen.
Heilige Rus – ein von Gott gewolltes Ganzes
Kaum zurücknehmen wird man die Ideologie von der Heiligen Rus’: dass Gross-, Weiss- und «Kleinrussland» ein von Gott gewolltes Ganzes bilden – drei nicht gleichwertige Brudervölker unter der von Gott eingesetzten weltlich-geistlichen Führung in Moskau, die über die Einheit wacht. Wie sollte man die Absage an diesen heiligen Auftrag für einen Deal rechtfertigen?
Die russischen Dissidenten, von denen ich durch eigene Begegnungen bezeugen kann, dass sie nicht nur in der Emigration weiterhin da sind und ausharren im Land, sind still geworden mit einem individuellen Entscheid, ihre sinnvolle Lebensaufgabe nicht im Gefängnis weiter zu verfolgen. Sie haben ein erstaunliches Immunsystem gegen Propaganda. Das persönliche Gespräch im geschützten Raum ist für sie im Warten auf Wandel unverzichtbar.
Hindernisse für einen Frieden in der Ukraine, im Land der Verteidiger
In der Ukraine liegen die Hindernisse für einen Waffenstillstand und erst recht für einen Frieden anders. Hier spielt die staatliche Propaganda nicht die gleich durchdringende Rolle wie in Russland. Beide Haltungen in der ukrainischen Bevölkerung, sowohl die einen Waffenstillstand befürwortende wie die ablehnende, stehen vielmehr im Zusammenhang mit realer Erfahrung von unfassbarer Gewalt, von Verlust und Angst. Die gleiche Erfahrung treibt sowohl zur Sehnsucht nach dem Kriegsende als auch zur Weigerung, mit dem Verursacher der Leiden zu verhandeln. (Im Unterschied dazu sind die Haltungen gegenüber Krieg und Frieden bei den meisten Bewohnern Russlands in anderen Vorstellungen begründet, da nur wenige von ihnen schon direkt mit Tod und Zerstörung in Berührung kamen. Gerade in Regionen Russlands, wo die meisten Toten zurückkommen von der Front, wie Dagestan, Burjatien, Tatarstan ist Fatalismus weit verbreitet, in dem Gotteswille und Regierungswille dumpf ineinanderfliessen.)
Gewalterfahrung und Denkmuster
Weder die ukrainische Regierung noch die Mehrheit der national gesinnten Bevölkerung kann und will sich gerade jetzt auf eine selbstkritische Besinnung einlassen – begreiflicherweise und unglücklicherweise. Wenn ich im Gespräch mit Ukrainern für einen Waffenstillstand eintrat und erwartete, dass ihnen die fortgesetzte Zerstörung von ukrainischem Gut und Leben am nächsten stehen müsste – noch viel näher als mir – traf ich nicht selten auf Widerstand: Schlimmer als Fortsetzung des Kriegs mit noch mehr Tod und Zerstörung ist ein ungerechter Frieden! Ein Frieden, in dem man den Aggressor für seinen rechtswidrigen Überfall und seine Kriegsverbrechen mit Gewinn von Territorium belohnen würde. Und ausserdem, da er in seinem Wesen böse und lügnerisch ist, wäre jeder Waffenstillstand doch nur eine kurze Illusion, versicherte man mir. Aber nicht alle, die den Waffenstillstand ablehnen, bejahen den Fronteinsatz ihrer Söhne und Männer.
Der Wille, im Hinblick auf Frieden die russischen Menschen von der russischen Regierung zu unterscheiden, ist bei vielen erlahmt: Es sind ja doch «Die Russen», die uns bombardieren und die nicht auf die Strasse gehen, um mit mutigem Protest den Krieg gegen uns zu beenden. Es ist Krieg! Und das russische Fernsehen bestätigt gerade triumphierend ihr Vorurteil: in der neusten Umfrage bezeichnen sich schon 94 Prozent als Patrioten! (Jetzt Patriot sein heisst «für den Krieg sein», das ist die Sprachregelung.)
Es fällt vielen Ukrainern schwer, in die Überlegungen zu Waffenstillstand und Frieden die Tatsache einzubeziehen, dass im Donbass und auf der Krim die Mehrheit der jetzt dort lebenden Bewohner nicht von der ukrainischen Armee befreit werden will, und dass die «Befreiung» des rechtmässig der Ukraine zustehenden Territoriums gegen den Willen der Bewohner nur durch eine schreckliche Intensivierung von Tod und Zerstörung auf beiden Seiten denkbar wäre. Für einen Vertreter des Rechtsprinzips hat eine Erwägung der Opfer kein Gewicht, so wenig wie für den Vertreter des Heiligen Krieges. Kompromissbereitschaft und Versöhnung ist für beide keine Tugend, sondern Verrat.
Die nationale Idee der Ukraine
Jetzt erst recht wird unter Ukrainern eine Einsicht in die katastrophalen Folgen der Ideologie und Praxis verweigert, die der extreme Nationalist Bandera, OUN und UPA der jungen Ukraine im 2. Weltkrieg auferlegen wollten. Ihr Heldentum wird verteidigt und ihr Ruhm täglich mit ihrem Kampfruf erinnert und ihre Verbrechen werden geleugnet, nur weil Putin in verlogener Weise, um den Krieg zu rechtfertigen, den Finger darauflegt. Ebenso wenig ist gerade jetzt eine klare Einsicht in die unausweichlich katastrophalen Folgen von jeder nationalistischen Idee im 21. Jh. zu erwarten, das heisst von jedem Streben nach einem Einheitsstaat für ein ethnisch aufgefasstes, einheitliches Volk mit einer einzigen Sprache, wie es im 19. Jh. in Mittel- und Osteuropa aufblühte und Krieg säte.
Es ist in der Gewalterfahrung wenig seelischer Raum frei für ein ehrliches Eingeständnis der blinden Flecken im politischen Denken der Vergangenheit sowie für eine neue Suche nach den Lebensbedingungen eines zukünftigen ukrainischen Staates: Dass er als demokratischer Rechtsstaat für alle Staatsbürger neu aufgebaut wird, ohne jede ethnische Mystifizierung. Um in der Ukraine endlich die Achtung sowohl der Mächtigen wie der Bürger vor dem demokratisch erarbeiteten Recht zu stärken, braucht es weder Ruhm der Helden noch Privilegierung der «echten» Ukrainer, nur Gedankenklarheit. Auch meine patriotischen Bekannten sind voll Bitterkeit über die noch schamlosere Korruption in Kriegszeiten.
Nach dem Krieg
Auch all diese ukrainischen Ideologien, Emotionen und Verwundungen würden nicht einfach durch einen von Trump und Putin verfügten Waffenstillstand plötzlich aufgelöst, damit sich die zukunftsfähigen Ideen einer unabhängigen Ukraine herausarbeiten können – diejenigen inneren Entwicklungen, die überhaupt eine wahre Unabhängigkeit nach aussen ermöglichen könnten. Nicht nur die unermesslichen materiellen Zerstörungen im Land sind zu bedenken, auch der ideologische Ballast aus der nationalen Vergangenheit, der sich an die Zukunft kleben will.
Genauso ungewiss steht es um den Freiraum für Zukunftskeime in einem hoffentlich vom Krieg wieder befreiten Russland, in den Putin seine Bevölkerung hineingezogen hat mit allen verheerenden, langfristigen Konsequenzen auch für das ideologisierte, durch Drohungen gelenkte soziale und geistige Leben, in dem die junge Generation heranwächst. Sie wird immer öfter von Veteranen mit Kriegserfahrung im Tarnanzug unterrichtet über die wahren Werte des Lebens, sowie von Geistlichen, die für den Sieg über die angeblichen Faschisten im Nachbarland beten.
Ein Weg zum Waffenstillstand?
Welche Kräfte können wieder herausführen aus dieser radikalen Ideologisierung der so ungleichen Kriegsparteien – aus der Selbsttäuschung über sich selbst und aus der Dämonisierung des Gegners als Hindernisse eines zukünftigen Friedens? Da tritt auf der Weltbühne einer auf, eine groteske Gestalt, die sich noch nie im Leben mit Sinneswandel abgeplagt hat und die keine Geduld oder Sachkompetenz für das Lösen eines Gordischen Knotens aufbringen will: ein Egomane, der nichts weiss von Russland und der Ukraine, die Diplomatie als Kunst verachtet und kaum weiss, wann er die Wahrheit sagt und wann er lügt.
Ich halte es für möglich, dass ihm aus dieser ideellen Leere heraus – anstelle der zu ewiger Dauer veranlagten Heiligen Kriege der «Wertegemeinschaften» – ein schneller Waffenstillstand als Deal gelingt. Darauf hoffe ich in Abwägung der Güter, weil ich das Gut «Abwesenheit von Krieg» hoch bewerte. Den wahrscheinlichen Sieg der russischen Armee bei einer Fortsetzung des Kriegs halte ich für eine langfristige Niederlage des entwicklungsfähigen Russlands, sowie für eine Katastrophe im ukrainischen Raum mit seinen noch zarten Anlagen zu einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat. Auf einem immer noch mehr verwüsteten, traumatisierten, materiell und ideell vergifteten Boden kann diese Anlage immer weniger gedeihen.
Ich zweifle nicht daran, dass es für einen nachhaltigen Waffenstillstand sinnvoll ist, die Ukraine durch Waffenlieferungen darin zu unterstützen, die gegenwärtige Frontlinie zu halten und den Luftraum über den Städten zu schützen – nicht mehr wie bisher, um den Krieg bis zum Sieg, d. h. bis zur Rückeroberung des Territoriums fortzusetzen, sondern um einen endlich energisch anzustrebenden Waffenstillstand abzusichern.
Aber wie will zum Beispiel die deutsche Regierung ihrer Bevölkerung plötzlich erklären, dass man mit «Russland» in geduldiger Diplomatie eine Vertragslösung ausarbeiten kann, wenn doch einzig eine hochgerüstete Bundeswehr und eine kriegstüchtige Gesellschaft im Verbund mit der Nato noch Schutz bieten können gegen die angeblich in Moskau schon geplante Invasion? Rationale Analyse mit Belegen für die dramatisch akute «Bedrohungslage» Mitteleuropas ist unerwünscht. So ist Aufrüstung die einfachste, wenn auch teuerste Antwort. Andere Voraussetzungen des künftigen Friedens – ausser Abschreckung – sind kein Thema in Europa.
Multipolare «Friedensordnung»
Was sich abzeichnet als möglicher Deal zwischen Trump und Putin wäre ein Schritt zu der von vielen herbeigesehnten «Multipolaren Weltordnung», welche die «Hegemoniale Weltordnung» ablösen soll. Angestrebt vor allem von Russland und China wird eine alternative Hegemonie über die Menschheit – die multipolare Hegemonie der atomar bewaffneten Grossmächte. Sie beruht auf Absprachen der Mächtigsten der Welt zur Wahrung ihrer persönlichen Macht im Innern sowie ihrer Grossmachtambitionen weltweit.
Die Interessen der Bevölkerungen, der eigenen und der fremden, kommen für diese Absprachen erfahrungsgemäss nicht in Betracht. Die Interessensphären würden friedlich unter den Grossmächten aufgeteilt und man würde einander im Klub der Privilegierten grosszügig «Rote Linien» zugestehen. Putin hat die Konferenzen von Jalta und Potsdam als inspirierende Vorbilder gerühmt: Starke Männer, Sieger, anerkennen gegenseitig ihre Ansprüche, ohne die Bewohner zu fragen. Das könnte auch für Xi Jin Ping, Putin und Trump ein akzeptables Konzept sein.
Und unsere Aufgabe?
Aber was bleibt uns zu tun, die wir unsere Meinung äussern dürfen, ohne dass ihr von den Mächtigen eine Relevanz zugemessen wird? Am Sinneswandel mitarbeiten! Das könnte zum Beispiel heissen: uns mehr für Menschen als für Mächte, Prinzipien und Schachzüge interessieren. Die Kontakte zu Menschen in der Ukraine und in Russland nicht abbrechen lassen oder neu aufnehmen. Uns weiterhin mit der russischen Kultur und neu mit der ukrainischen Kultur verbinden. An den zukunftstragenden Kräften sowohl in Russland wie auch in der Ukraine Anteil nehmen, wo man sie abseits der Machtstrukturen und Ideologien auffinden kann. Uns keinem Stream anvertrauen bei der Wahrheitssuche und den eigenen Sinn für Wahrhaftigkeit immer noch feiner ausbilden. Nicht mitlügen, mithassen, mithetzen oder mitschwärmen – verführt durch Antipathien oder Sympathien und durch ein angenehmes Wirgefühl in der Community der Gleichmeinenden, Gleichhassenden, Gleichschwärmenden. Unser energisches Interesse vom wenig fruchtbaren Streit um die Vergangenheit – wer hat angefangen und ist schuld – endlich umlenken auf die Zukunftsmöglichkeiten in Russland, in der Ukraine, in Europa.
Bei der Frage, ob ein Waffenstillstand zustande kommt, fühle ich meine ganze Ohnmacht. Bei der Frage, ob sich aus dem Ende des Krieges, aus dem Deal, ein Frieden entwickeln lässt, fühle ich mich nicht gleichermassen ohnmächtig. Da sehe ich bescheidene Möglichkeiten, sogar Notwendigkeiten der Mitwirkung.
Ein Frieden ist nicht als Deal der Mächtigen zu haben.