Präsident Biden hat der Ukraine den Einsatz von US-Kurzstreckenraketen auch auf russisches Territorium erlaubt. Putin reagierte mit verschärfen Atomwaffen-Drohungen. Spielen beide mit dem Risiko und der Angst vor einem dritten Weltkrieg?
Nein, mit Sicherheit hat der demnächst aus dem Amt scheidende Biden kein Interesse daran, das Risiko eines dritten Weltkrieges zu verschärfen. Solche Ungeheuerlichkeiten unterstellen ihm nur die russische Putin-Propaganda und deren zynische Nachbeter im schrillen westlichen Medienkosmos. Sie beziehen sich dabei auf den Einsatz in der vergangenen Woche von modernen amerikanischen Kurzstreckenraketen Atacms und britischer Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow durch die ukrainische Armee auf russisches Territorium.
US-Waffeneinsatz auf russisches Hinterland
Kurz zuvor hatte Präsident Biden entschieden, das Verbot für den Einsatz dieser Kurzstreckenwaffen mit rund 300 Kilometer Reichweite jenseits der ukrainischen Grenze zu lockern. Allerdings waren die Atacms-Geschosse schon zuvor gegen russische Stützpunkte auf der Krim und in anderen besetzten Gebieten verwendet worden, die indessen völkerrechtlich weiterhin zur Ukraine zählen.
Russland antwortete postwendend mit dem Beschuss einer Rüstungsfabrik in der südukrainischen Stadt Dnipro durch den erstmaligen Einsatz einer modernisierten ballistischen Mittelstreckenrakete namens Oreschnik. Diese Waffe verfügt über mehrere Sprengkörper, die voneinander unabhängig auf verschiedene Ziele programmierbar sind (sogenannte MIRV-Technologie). Die auf Dnipro abgeschossene Oreschnik war mit konventionellen Sprengladungen bestückt, kann aber auch atomar ausgerüstet werden. Ausserdem wurde bestätigt, dass Moskau die amerikanische Seite kurz vor dem Oreschnik-Einsatz vorgewarnt hätte – offenbar um gefährliche Missverständnisse zu vermeiden.
Medwedew spricht vom «Weltkrieg III»
Russlands Machthaber Putin hat nach diesem Schlagabtausch in einer Fernsehrede unterstrichen, dass die bisher geltende Nukleardoktrin seines Landes überarbeitet worden sei. Danach behält sich Moskau laut Angaben des Kreml-Sprechers «das Recht vor», auf konventionelle Angriffe, die sich gegen die «territoriale Integrität» Russlands richten, mit atomaren Waffen zu antworten.
Unzweifelhaft geht es dem Putin-Regime mit diesen Reaktionen zum Einsatz westlicher Waffensysteme auf Ziele im russischen Hinterland darum, die schon früher signalisierten Drohungen vor einem Atomkrieg zu verschärfen. Dmitri Medwedew, ein enger Spiessgeselle und früherer Statthalter Putins, der sich als hemmungslose Kriegsgurgel profiliert, hat denn auch in einer Botschaft auf X gewarnt, weitere militärische Provokationen von Nato-Ländern gegenüber Russland «bedeuten Weltkrieg III». Auch notorische Putin-Propagandisten im Westen bedienen diese Alarm-Rhetorik und behaupten, Präsident Biden scheue nicht davor zurück, am Ende seiner Amtszeit, den «dritten Weltkrieg» vom Zaun zu reissen.
Putin rüttelt am Atomwaffen-Tabu
Zunächst muss klargestellt werden: Es sind allein die Moskauer Propagandaküche und deren ausländische Lautsprecher, die solche atomaren Angst- und Droh-Szenarien beschwören. Muss man sie ernst nehmen? Wenig spricht dafür.
Denn erstens hat Putin seit dem Beginn des Überfalls auf die Ukraine vor bald drei Jahren schon öfter mit Anspielungen auf das russische Nukleararsenal operiert. Er hatte durchblicken lassen, dass die Lieferung von westlichen Kampfpanzern und modernen Flugzeugen das Überschreiten roter Linien bedeuten könnte. Zweitens würde der Kriegsherr im Kreml mit dem Einsatz einer Atomwaffe ein total unkalkulierbares Risiko für sein eigenes Land und für sich selber eingehen. Er weiss gut genug, dass auch die ukrainischen Verbündeten über solche Waffen verfügen. Und drittens müsste er damit rechnen, dass er durch eine derartige Eskalation seinen wichtigsten Verbündeten China schwer vor den Kopf stossen würde.
Angriffskrieg und Verteidigungskrieg – ein fundamentaler Unterschied
Ausserdem darf im Zusammenhang mit den gegenseitigen Eskalationsvorwürfen zum Ukraine-Krieg ein grundsätzlicher Unterschied nicht vergessen werden: Es ist Putin, der diesen furchtbaren Angriffskrieg begonnen hat, der durch keinerlei glaubwürdige Argumente gerechtfertigt werden kann. Er persönlich ist verantwortlich für die Zehntausende von Toten in der Ukraine, die Zerstörung von Dörfern und Städten, die Millionen von Flüchtlingen. Präsident Biden dagegen hilft der Ukraine in ihrem heroischen Verteidigungskrieg gegen einen skrupellosen Angreifer. Ein solcher ist gemäss Artikel 51 der Uno-Charta völkerrechtlich klar gerechtfertigt, und zwar ausdrücklich auch mit Hilfe kollektiver Unterstützung, was nicht genug wiederholt werden muss.
Wenn also die Kreml-Propaganda sich gegen den ukrainischen Einsatz westlicher Kurzstreckenwaffen wie Atacms und Storm Shadow gegen russisches Territorium empört, so wird dabei geflissentlich ausgeblendet, dass es sich um den Einsatz im Rahmen eines legitimen Verteidigungskrieges handelt. Demgegenüber setzt die russische Armee ebenfalls massenhaft ausländische Waffen wie die iranischen Shahed-Drohnen und neuerdings sogar mehrere tausend nordkoreanische Soldaten in ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein. Hat man jemals von Protesten gegen diese Eskalation der russischen Kriegsführung seitens der Putin-Claqueure gehört?
Chancen für einen Kompromiss-Waffenstillstand?
Von westlicher Kriegstreiberei im Zusammenhang mit der Waffenhilfe von Nato-Ländern an die Ukraine kann nur dann die Rede sein, wenn man Angriffskriege und Verteidigungskriege auf die gleiche moralische und völkerrechtliche Stufe stellt.
Es mag sein, dass es nach Trumps Einzug im Weissen Haus tatsächlich zu echten Waffenstillstandsverhandlungen im Ukraine-Krieg kommt. Falls es der neuen Administration in Washington gelingt, Putin dazu zu bewegen, von seinen bisherigen Forderungen eines Diktatfriedens abzurücken, durch den die Ukraine praktisch zu einem neuen Satellitenstaat Moskaus degradiert würde, wäre das im Interesse der fürchterlich leidenden ukrainischen Bevölkerung zu begrüssen.
Auch ein Kompromiss-Waffenstillstand wird aber höchstens dann erreichbar sein, wenn Putin erkennen muss, dass Amerika und die Nato-Verbündeten weiterhin entschlossen sind, die Ukraine in ihrem Verteidigungskrieg mit allen notwendigen Mitteln zu unterstützen. Zu diesen Mitteln zählen auch jene Waffen, mit denen das Territorium des Angreifers unter Beschuss genommen werden kann.
Trump hat dieser Tage im Zusammenhang mit der Ernennung eines Ukraine-Beauftragten von einem «Frieden durch Stärke» gesprochen. Das lässt einen kleinen Spalt für Hoffnungen offen.