
Wie reagierte die iranische Diaspora auf den Zwölf-Tage-Krieg? Sehr unterschiedlich. War der Krieg von Trump und Netanjahu gut für Iran? Oder hat er der Freiheitsbewegung geschadet? Jedenfalls hat sich etwas Entscheidendes geändert. Ali Khamenei spricht nicht mehr von der «islamischen Republik», sondern von der «iranischen Nation». Unser Autor erzählt.
Sehr erleichtert und dankbar waren wir. Ungewiss war es, ob wir an diesem Freitagnachmittag gerade nur eine kurze Atempause des Krieges erlebten oder sein Ende. Wacklig und instabil war die Internetverbindung, aber sie war da, und das war ein unschätzbares Geschenk.
Nach zwölftägigem Bombardement und der internetlosen Zeit hatten wir uns zu unserem wöchentlichen Videotalk wieder zusammengeschlossen. Endlich hörten wir wieder die Stimmen unserer Lieben, aus Schiraz, Isfahan, Teheran und Karadj. Sie erreichten uns in Frankfurt, Kopenhagen, Los Angeles und Rom. Die iranische Diaspora ist im wörtlichen Sinne global.
Wir fürchteten: Die Verbindung könnte in der nächsten Sekunde verschwinden, und die Ungewissheit und die Dunkelheit könnten schnell zurückkehren. Es war nicht die Zeit des üblichen Geplauders und Geschwätzes. Wir stellten nur kurze Fragen: «Wie geht es euch, wo wart ihr, was habt ihr gemacht, was denkt ihr?»
Chirurgische Angriffe
Wortkarg, aber erstaunlich gelassen waren unsere Gesprächspartner in Iran. «Macht euch keine Sorgen, sie wissen, was sie tun, die Angriffe sind chirurgisch», sagte der Cousin aus Karadj. Seine Schadenfreude war unüberhörbar. «Ich bin aber traurig, sie töten zwar, wen sie töten müssen, aber sie bombardieren auch unsere Infrastruktur, ich kann nur schweigen», sagte die Nichte aus Isfahan.
Ihre Stadt war ein wichtiges Ziel, wegen der dortigen Atomanlagen. Der Verwandte aus Schiraz hatte aber wie immer Kommentare und Analysen auf Lager. Er verfolgt die Nachrichten regelmässig, schaut regelmässig die BBC-News und Iran International. Er ist skeptisch. Die Feuerpause werde nicht von Dauer sein, der Krieg komme über kurz oder lang wieder zurück, die Israeli seien noch nicht fertig.
Anlässe und Alibi fänden sie genug, und- حضرت اقا – «der grosse Herr» liefere selbst ihnen genug Vorwand. «Habt ihr ihn doch gehört, den grossen Herrn!»
700 Verhaftungen
Wenige Stunden zuvor hatte Khamenei in einem Video aus seinem Versteck einen grossen Sieg über Israel und die USA verkündet und angedeutet, die Atomanlagen in Fordo seien intakt, Amerikaner hätten mit ihren Bomben nichts erreicht. Doch die iranische Führung sei schwach und machtlos, aber nur gegenüber dem Ausland, sagt unserer Analytiker aus Schirazhinzu. Er fügt hinzu: «Uns gegenüber werden sie bald ihre Stärke zeigen.»
Er sollte recht behalten. Die Milizen haben die Strassen praktisch wieder erobert. Wie während eines Ausnahmezustandes haben sie in den Strassen Überwachungsposten eingerichtet, kontrollieren Autos und Passanten, demonstrieren ihre Stärke. Mindestens 700 Dissidenten sind nach neuesten Informationen verhaftet worden, unter ihnen befinden sich die religiösen Führer von Bahai und Juden.
Der Videotalk hält doch nicht lange, oder nicht lang genug für uns. Iraner leben seit Wochen unter Stromknappheit. Immer wieder fällt der Strom ganz aus. Welcher Stadtteil zu welcher Zeit und wie lange ohne Strom auskommen muss, soll man der Webseite des Versorgers entnehmen, doch sicher sind diese Angaben keineswegs.
«Der Freiheitsbewegung geschadet»
Die Mail war sehr kurz. «Kennst Du sie? Sie ist zwar hübsch, wie die meisten Iranerinnen, aber naiv.» Als Naivitätsbeweis hatte mein alter Freund aus Zeiten der Studentenbewegung einen Link angehängt. Es war ein Interview mit Daniela Sepehri im «Tagesspiegel» vom 26. Juni. Darin sagte sie: «Trump und Netanjahu haben der Freiheitsbewegung geschadet.»
Daniela ist eine Journalistin. Sie schreibt für die TAZ, den Spiegel und anderen Medien; sie ist sehr aktiv, deshalb kann man von ihr dieser Tage auch viel lesen, hören, sehen; auf ihrer Webseite gibt die Deutsch-Iranerin das Notwendige aus ihrer Biographie bekannt und schreibt am Ende: «Als Social-Media-Beraterin und -Coach helfe ich Ihnen, Ihren Social-Media-Auftritt aufzubauen und zu optimieren. Als Journalistin schreibe ich für verschiedene Medien, dabei liegen meine Schwerpunkte auf den Themen Iran und Migration.»
Ist mit diesen Zeilen die Frage meines alten Freundes beantwortet? Nein, mitnichten. All das hat der Freund, der Buchautor und Journalist ist, mit dem ich Anfang der Achtzigerjahre im ASTA der Frankfurter Uni sass, inzwischen höchstwahrscheinlich selbst im Netz gefunden, dazu brauchte er mich nicht. Er wollte etwas anderes wissen.
Die komplexe Welt der Iraner
Seine eigentliche Frage lautete, ob ich auch seine Feststellung teile, Daniela sei naiv, weil sie den Krieg von Netanjahu und Trump für schädlich hält, genauer gesagt: Er will wissen, ob ich auch so naiv bin wie Daniela. Ja, wäre die kurze Antwort. Der Freund spricht ein sehr kompliziertes, sehr altes Thema, an – eines, das über die Tagesaktualität und das Realpolitische hinausgeht. Im Grunde spricht er ein Rätsel an, für das noch niemand eine befriedigende Antwort gefunden hat. Der Freund wundert sich, dass eine engagierte Deutsch-Iranerin, die vor allem über Migration und viel über «Frau, Leben, Freiheit» schreibt, den Angriff gegen das Regime der Mullahs für schädlich hält. Doch Daniela ist nicht allein.
Die Liste der Personen und Persönlichkeiten aus der Opposition, die sich bis jetzt gegen diesen Krieg geäussert haben, ist sehr lang; nicht nur im Ausland, sondern sogar aus dem Teheraner Evin-Gefängnis hören wir ihre Stimmen, lesen ihre Zeilen. Auch Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi gehört dazu. Wie lang oder kurz diese Wortmeldungen auch sein mögen, sie alle betonen, Khameneis Politik habe das Land dorthin gebracht, wo es sich nun befindet.
Trotz aller realpolitischen Klarheiten, begegnen wir in all diesen Statements, Kommentaren und Einschätzungen einer tiefen Zerrissenheit, Zwiespältigkeit, Unsicherheit, wem sie wieviel Schuld geben und wen sie mehr verurteilen sollen: Netanjahu, Trump oder Khamenei?
Die ewige Ambivalenz
Als ob sie sich in einem Spannungsfeld von gleichstarken, unheimlichen Polen befinden, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Hier die Religion, die sich brutal und barbarisch, ja befremdlich zeigt, dort ein Gefühl, mehr zu sein als nur ein Moslem.
Im Grunde sind die Iraner keine richtigen Moslems, aber sie geben sich als die besten Gläubigen. (Arthur de Gobineau)
Das ist eine tiefe, alte Seelenkluft, die sich bei jedem neuen Konflikt immer wieder offenbart und sie ist für die iranische Kultur wesentlich, fundamental.
Über diese Zerrissenheit und Zweideutigkeit haben Anthropologen, Ethnologen, Religionswissenschaftler vieles geschrieben und gedeutet. Die Tagebücher und Aufzeichnungen der ausländischen Diplomaten sind voller Fragen über die Rätselhaftigkeit, wie sich die Iraner verhalten, benehmen.
Hin- und hergerissen zwischen vorislamischer Kultur und erfundenem Schiismus
Wie kann man ein Iraner sein, fragte und wunderte sich Montesquieu in seiner Novelle «Persische Briefe». Arthur de Gobineau lebte im 19. Jahrhundert als Gesandter Frankreichs jahrelang in Teheran. Er war ein hervorragender Geschichtenerzähler, seine Kurzgeschichten und Erinnerungen über Persien hat er in «Nouvelles asiatiques» (1876) veröffentlicht. Darin spricht er von Iranern als einem unlösbaren Rätsel. Innerlich seien sie im Grunde keine richtigen Moslems, aber äusserlich täten sie, als seien sie die besten Gläubigen, schreibt der französische Diplomat.
Die Sunniten erfanden für die Schiiten den Begriff «باطنیون», die «Innerlichen». Im Inneren blieben sie Perser, äusserlich benähmen sie sich wie Verstellungskünstler, hin- und hergerissen zwischen ihrer vorislamischen Kultur und einem erfundenen Schiismus: voller Theatralik.
Ernest Renan, Sprachwissenschaftler und wegweisender französischer Orientalist und Autor mehrerer Werke über den Islam und den Nahen Osten, meinte bereits 1883, Iraner versteckten sich mit Mühe in einer semitischen Kleidung, sie würden irgendwann dieses Gewand ablegen und sich ihrem nationalen Kleid zuwenden. Ob es Wunschdenken ist oder Voraussage, sei dahingestellt.
Khamenei entdeckt die iranische Nation
In dem zehnminütigen Video, das Ali Khamenei nach dem israelischen Angriff aus seinem Versteck sendete, sprach er 18 Mal von der «iranischen Nation» und kein einziges Mal vor der «islamischen Republik».
Das ist eine politische Bombe, eine 180-Grad-Wende. Der Gründer dieser «Republik» hatte einst per Fatwa alles Nationale für Frevel erklärt. Wenige Monate nach dem Sieg der Revolution bezeichnet er die «Nationale Front» als einen Haufen Gotteslästerer, die in der iranischen Politik nichts zu suchen hätten.
Die Front-Anhänger hatten zuvor zu einer Demonstration gegen das قصاص Gesetz «Auge um Auge, Zahn um Zahn» aufgerufen. Ajatollah Ruhollah Khomeini liess die Front, die Organisation des legendären und von allen geachteten Ministerpräsidenten Mohammad Mossadegh, verbieten, obwohl er seinen Sieg auch den bekannten Persönlichkeiten dieser Front verdankte. In der ersten Regierung der «Republik» hatte die Front drei wichtige Ministerposten.
Revolutionsexport
Seine Revolution war aber eine islamische, die keineswegs auf Iran beschränkt war, sie musste in alle islamischen Länder exportiert werden. Alle nationalen Interessen, die diesem Export im Weg standen waren zweitrangig, unwichtig. Alle Denkmäler, Rudimente oder sogar Schriften, die die vorislamische Kultur priesen, sollten für immer in Vergessenheit verschwinden.
Nun spricht er von der Nation, mit der Hoffnung, die Unzufriedenen hinter seinem Banner zu einigen. Plötzlich liest man viel über Heroen und Figuren aus der persischen, vorislamischen Zeit.
Schon in der ersten Wochen nach dem Sieg zog der berühmt-berüchtigte Scharfrichter Ajatollah Khalkhali mit einer Gruppe nach Persepolis, um das «Götzenmonument» zu zerstören. Buchstäblich in letzter Minute wurde er daran gehindert. Sonst wäre das geschehen, was wir später im syrischen Palmyra erlebten. So lange Khomeini am Leben war und soweit er konnte, widmete er sich dem Ziel des Revolutionsexports. Er legte ein massives Fundament.
Es war aber sein Nachfolger Ali Khamenei, der sein Werk mit aller Kraft ausbaute. Er kreierte die «Achse des Widerstands», die zum Mittelpunkt seiner seit jetzt 36-jährigen Herrschaft wurde. Nun kehrt er nach der Niederlage zurück, spricht von der Nation in der Hoffnung, die Unzufriedenen hinter seinem Banner zu einigen. Plötzlich liest, hört und sieht man viel über Heroen und Figuren aus der persischen vorislamischen Zeit. Iran habe ein Jahrtausend alte Kultur, in der die Kapitulation nie vorkomme, entgegnet er Trump in seinem letzten Video.
Resilientes Regime
Diese Wende zum Nationalen ist nicht mehr als leere Propaganda, eine Maskerade, geboren aus dem Desaster, in dem er sich befindet und das er Sieg nennt.
In der Praxis geschieht etwas anderes. Auf der Suche nach zionistischen Spionen ist die Miliz mit dem beschäftigt, was sie in den letzten Dekaden immer tat. Sie schlägt zu. Und das Parlament, das in vielem Spionagetätigkeit sieht, beschliesst neue Gesetze.
Die Nutzung des amerikanischen Satelliten-Internetdienstes Starlink ist Menschen in Iran künftig verboten. Verstösse können mit Geldstrafe, Peitschenhieben und bis zu zwei Jahren Gefängnis geahndet werden. Die Entscheidung muss noch vom Wächterrat gebilligt werden, doch das gilt als Formsache. Die Durchsuchung der Handys ist die Hauptbeschäftigung der Miliz.
Der Zwölf-Tage-Krieg mit Israel und den USA ist nicht nur für Khamenei, sondern auch die iranische Zivilgesellschaft eine Niederlage. Um zu Daniela Sepehri zurückzukommen: Dieses Regime erweist sich resilienter als gedacht.
Weder Reformen noch Rebellion, nicht einmal der massive Angriff aus dem Ausland können Khameneis Herrschaft erschüttern. Viele meinen, auch nach seinem Tod passiere nicht Weltbewegendes.