
Russland wurde der Krieg aufgezwungen, Selenskyj ist ein Diktator, die Uiguren leben in Freiheit. Gelogen wird mit Anspruch auf vollen Respekt. – Ein Flug über die Geistesgeschichte zeigt die Entwicklung zum Relativismus und wie man mit diesem kritisch umgehen kann.
Was ist Wahrheit? – So lautet die vielleicht berühmteste Frage aus dem Johannesevangelium. Der römische Statthalter richtet sie an den angeklagten Jesus. Die Frage bleibt offen, weil Pontius Pilatus die Antwort des Nazareners nicht abwartet, sondern sich gleich zu den Juden begibt, um vor ihren Augen seine Hände in Unschuld zu waschen.
Die Pilatusfrage ist äusserst vielschichtig. Philosophisch lässt sie sich zuspitzen auf den Aspekt der Modalität: In welcher Weise nämlich liegt Wahrheit vor? In welchem Verhältnis steht die behauptete Wirklichkeit zu den Menschen? Wie spiegeln Wahrheitsaussagen deren Werte, Meinungen und Interessen?
Die Objektivität der Wirklichkeit
Diesbezüglich hatte der metaphysische Mainstream der Antike wie des Mittelalters eine ganz klare Antwort: Die wahre Wirklichkeit existiert an sich, also gänzlich unabhängig vom Subjekt und seinen Bedürfnissen. Das Seiende besteht objektiv, ist uns quasi entgegengeworfen (obiectum) und wir haben uns seinen Vorgaben zu unterziehen. Das gilt für die platonischen Ideen wie für die Substanzen des Aristoteles und schliesslich auch noch für das Konzept einer berechenbaren Natur, wie es die Neuzeit entwickelt hat.
Ungeteilte Zustimmung fand diese metaphysiche Seinsordnung allerdings nie. Schon die antiken Sophisten zweifelten sie an; sie waren Rhetoriker und als solche natürlich auf Beeinflussung bedacht. Entsprechend brachten schon sie im Zusammenhang mit Wahrheit die Wirkung von Interessen ins Spiel. Aber erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert geriet der alte Objektivismus ins Visier einer grundsätzlichen Kritik, nämlich als Friedrich Nietzsche sich daran machte, das überkommene Wahrheitskonzept mit dem Hammer seines unerbittlichen Denkens zu zertrümmern.
Hintergründiger Wille zur Macht
Nietzsche trieb die Zweifel an der traditionellen Metaphysik auf die Spitze, indem er auf der Basis der sophistischen Skepsis eine neue, die Horizonte des Denkens sprengende Philosophie begründete. Ihr zufolge gibt es gar keine objektive Wahrheit mehr. Was immer als solche daherkommt, denunziert Nietzsche als Hirngespinst, als Blendwerk, geschaffen allein zum Zweck, die Menschen zu täuschen und zu beugen.
Die wahre Wirklichkeit hinter den gehandelten «Wahrheiten» ist für Nietzsche der Wille zur Macht, das stete Bestreben der Menschen, einander zu manipulieren. Nietzsche entwarf ein Konzept von Wirklichkeit, das jegliche Wahrheit durch subjektive Interessen kontaminiert sieht und sich insofern von der Vorstellung eines objektiven Seins radikal verabschiedet. Es ist dies der entscheidende Bruch mit der philosophischen Tradition, der letztlich Nietzsches Modernität ausmacht.
Der Lingistic Turn in der Philosophie
Dieser relativistische Ansatz sollte grosse Wirkung entfalten. Er wurde zum Ausgangspunkt für die avancierte Philosophie des 20. Jahrhunderts, die Nietzsche in der Fundamentalopposition zur älteren Metaphysik folgt. So gilt ihr nun jede erscheinende Wirklichkeit als durch Sprache oder einen kulturellen Kontext konstituiert.
Ein prominentes Beispiel findet sich in der Sprachphilosophie des späten Wittgenstein, welche das traditionelle Zeichenmodell verabschiedet. Dieses war noch von fertig vorliegenden Wortbedeutungen ausgegangen und von an sich gegebenen Gegenständen. Beides sollte nach traditionellem Verständnis der sprachliche Code fest – quid pro quo – einander zuordnen. In seinen «Philosophischen Untersuchungen» (entstanden zwischen 1936 und 1946, veröffentlicht 1953) wies Wittgenstein nun aber nach, dass die Umgangssprache so gerade nicht funktioniert, sondern dass da die Wortbedeutungen plastisch sind und ihre definitive Bestimmung jeweils erst durch die Anwendung in einem spezifischen Kontext erhalten.
Was «Sau» heisst, hängt vom Gegenstand ab, der gerade mit diesem schönen Wort bedacht wird. Umgekehrt bleibt auch die Wirklichkeit der Dinge nicht unberührt von den Wörtern, mit denen wir über sie sprechen. Ob ich das Tier im Gatter vor mir als «Sau» oder als «Schweinchen» bezeichne, macht einen Unterschied – nicht zuletzt in den Augen des Kindes, mit dem ich im Streichelzoo unterwegs bin.
Von Wittgenstein inspiriert, führte Thomas S. Kuhn (Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1962) diese relativistische Perspektive auch ins Feld der Wissenschaftsgeschichte ein. In seinem Konzept vom Paradigmenwechsel gibt es nicht mehr die eine, an sich fertige Natur, deren Strukturen die Erkenntnis nach und nach freilegt. Vielmehr bestimmen die konzeptuellen Zugänge der Wissenschaftler, in welcher Gestalt uns die Natur jeweils entgegentritt.
So lange die Physik wie bei Newton Raum, Zeit und Masse als absolut ansetzt, bewegt sie sich in einer anderen Welt, als wenn sie in der Nachfolge Einsteins diese Grössen an ein bewegtes Bezugssystem bindet. Damit geht es beim Paradigmenwechsel nicht mehr nur um eine lineare Zunahme von Wissen, sondern um einen eigentlichen Gestaltwandel. Erkenntnis ist da bloss scheinbar objektiv, weil letztlich stets durch den Zugriff von menschlichen Beobachtern bedingt.
Foucaults Machtkritik
In ähnlicher Weise relativiert auch Michel Foucault die wissenschaftliche Erkenntnis (Les Mots et les Choses, 1966). Auch bei ihm liegt dem Wissen ein Vorgriff zugrunde, der nicht wirklich thematisiert wird, aber letztlich darüber bestimmt, was überhaupt in den Fokus der Forschung treten kann. Bei Foucault besteht diese sprachlich-kulturelle Voraussetzung in dem, was er Diskurse nennt: begriffliche Netze, welche die wissenschaftliche Community einer bestimmten Epoche teilt und die unterschwellig deren Blick lenken.
Foucault schlägt nun ausdrücklich den Bogen zurück zu Nietzsche: Die Diskurse, die er als Fundament jeder Erkenntnis versteht, sind ganz und gar von Macht durchsetzt. In ihnen verdichten sich stets gesellschaftliche Interessen, so dass es keine neutrale – «reine» – Erkenntnis geben kann. Foucault zielt darauf ab, solche Machteinwirkungen freizulegen, um einen freieren Blick zu gewinnen.
Wie Nietzsche Religion und Kirche ins Visier nahm, so attackiert der Poststrukturalist Foucault die modernen Wissenschaften, allen voran Medizin und Psychologie. Dies letztlich mit dem Ziel, deren Autorität zu erschüttern und die Ausschliessungen, die sie vornehmen, vergehen zu lassen «wie ein Gesicht im Sand».
Anything goes
Das inzwischen vergangene Jahrhundert hat das Verständnis von Wahrheit nochmals verändert: Nietzsche war angetreten gegen eine noch mächtige, geradezu monolithische Denktradition. Gegen deren Objektivismus führte er provokant ein Wahrheitskonzept ins Feld, in dem jede erscheinende Wirklichkeit mit subjektiven Einflüssen verfilzt ist. Michel Foucault steht dazu im Verhältnis epigonaler Nachfolge und muss sich auf dem Kampfplatz längst nicht mehr allein behaupten. Er erhebt zwar nach wie vor einen emanzipatorischen Anspruch, doch angesichts der gewandelten Umstände bewegt er sich bereits wieder auf dem Boden neuer Selbstverständlichkeiten.
Der von Nietzsche initiierte Relativismus hatte Wirkung entfaltet und in vielen kulturellen Nischen den alten Objektivismus abgelöst, ja er war da zum fraglosen Common Sense geworden. Entsprechend zeigte sich sein Stachel ziemlich stumpf, denn eigentlich war damit das Tor zur Condition postmoderne aufgestossen, in eine Kultur, in der «alles geht» und sogar der Bezug auf Fakten ins Leere zu laufen droht. In einer radikalen postmodernen Sicht gelten ja auch die einst «harten Tatsachen» nicht mehr als neutrale und stabile Referenzen, sondern bloss als rhetorische Figuren, die der Durchsetzung von Interessen dienen.
Allmacht der Gedanken
Wahr ist, was mir nützt. Mit dieser Devise werden alternative Wirklichkeiten denkbar, so dass zuletzt die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt. Genau das ist aber der Punkt, an dem sich der Relativismus – ursprünglich ein ideologiekritisches Projekt – von reaktionären Kräften kapern und als Blankoscheck für beliebige politische Manipulation missbrauchen lässt.
Jetzt glaubt man vom Tisch wischen zu können, was immer einem nicht in den Kram passt: Meldungen zu Inzidenzzahlen oder zu Durchschnittstemperaturen – das sind dann nur noch Fake News, die der politische Gegner verbreitet, um seine finsteren Interessen durchzusetzen. Dafür darf man von einem Palmenstrand in Gaza träumen mit Luxusresorts und ohne störende Einheimische. Dies ungeachtet des Umstands, dass die trotz allen Elends von dort gar nicht wegwollen, dass sie offensichtlich nirgends willkommen wären und dass ihre Vertreibung Menschenrechtsverletzungen in genozidalem Ausmass bedeuten würde.
Das ist pure Realitätsverweigerung, im besten Fall infantil, im schlimmeren wahnhaft. Wenn alles relativ ist, braucht sich niemand mehr über die Auswirkungen seines Handelns oder die Realisierbarkeit seiner Pläne Gedanken zu machen. Dem Wunschdenken sind keine Grenzen mehr gesetzt, und was immer ihm entgegensteht, gerät ins Visier einer paranoiden Abwehr.
Grenzenloser Markt der Meinungen
In der Tat ist in vielen kulturellen Bereichen ein subjektivistischer Relativismus an die Stelle des traditionellen Wahrheitskonzepts getreten und erscheint da mittlerweile gar als einzig akzeptable Form von Wirklichkeit. Ein solches Denken immunisiert sich gegen Kritik: Wenn ohnehin alles relativ oder eben durch Interessen bedingt ist, wird jedem Einspruch der Boden entzogen. Kritik gilt dann einfach als eine andere Meinung ohne jeden Wahrheitsanspruch.
Ohnehin sieht schon der Bezug auf objektive Wahrheit alt und abgehoben aus. Die relativistische Haltung sieht sich als das Neuere, das Moderne, und ihre Anhänger tun überkommene Auffassungen als Bildungsmüll ab. Auf dieser Basis gibt es keine allgemein anerkannte Grundlage mehr, auf welche alle sich einigen könnten und die den subjektiven Wünschen eine Grenze setzen würde. Es bleibt allein der Markt der Meinungen, auf dem sich zuletzt derjenige behauptet, der am lautesten schreit oder über die medialen Lautsprecher verfügt.
Den Relativismus relativieren
Was aber lässt sich dem entfesselten Subjektivismus entgegenhalten, wenn das traditionelle Konzept von Wahrheit als überholt gilt? – Es ist die Ideengeschichte genau dieses Konzepts, denn gerade dessen Entwicklung können wir gegen seine ideologische Erstarrung ins Spiel bringen. Nietzsches Relativismus war eben keine Zelebrierung der Beliebigkeit, sondern vielmehr eine Kritik, die Einspruch erhob gegen eine verfestigte Denkordnung und gegen gesellschaftliche Autoritäten, welche sich durch metaphysische Gedankengebäude legitimierten.
Nietzsche zielte darauf ab, alle vorfindlichen Horizonte zu sprengen. Dem «Anything goes» von heute dagegen geht dieser Impuls vollständig ab. Die subjektivistische Wirklichkeitsform hat sich selbst wieder zu einer Ideologie geschlossen und hilft so, bestehende Zustände zu rechtfertigen. Sie kokettiert zwar weiterhin mit einem rebellischen Anspruch, aber den bedient sie nur noch durch eine rabiat antitraditionalistische Haltung und durch stereotype Kritik an staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Verhältnissen.
Das ist reichlich billig, denn in solchem Relativismus legt sich die Rebellion ja nur mit leichten Gegnern an. Das traditionelle Wahrheitskonzept ist durch die moderne Kritik ohnehin erschüttert, und die staatlichen Instanzen verfügen in den westlichen Demokratien schon längst nicht mehr über ungeteilte Macht.
Die Väter der Moderne vollzogen einen radikalen Bruch und riskierten den Konflikt mit realen Mächten. Wer im Ernst Anspruch auf ihre Nachfolge erheben will, der müsste sich am heute Bestehenden reiben. Er hätte sich also dem ideologisch verengten Relativismus zu widersetzen, müsste dessen Verlust an kritischer Kraft aufzeigen und gegen ihn im Namen seiner ursprünglichen Intention opponieren.
Definitiver Abschied von monolithischer Wahrheit
Natürlich gibt es kein einfaches Zurück zum einheitlichen Objektivismus älterer Prägung, denn die Kritik, welche die Moderne an ihm geübt hat, lässt sich nicht ungeschehen machen. Die Kulturkämpfe der letzten anderthalb Jahrhunderte haben aufgezeigt, dass Wirklichkeit in unterschiedlichen Formen vorliegt. Diesen Umstand gilt es ausdrücklich anzuerkennen; allein dadurch wären wir schon aus dem postmodernen Einheitssumpf heraus.
Es bleibt die Einsicht, dass es Typen von Erkenntnissen gibt, in die immer schon subjektive Vorgriffe oder auch Interessen eingeflossen sind. Auf dem Feld der Geistes- oder Gesellschaftswissenschaften ist das praktisch immer der Fall, und das wird in deren reflektierter Methodik auch abgebildet. Die Deutung eines geschichtlichen Ereignisses oder eines Textes ist nun einmal etwas völlig anderes als die mathematische Erfassung eines physikalischen Experiments, wobei dessen theoretische Interpretation dann auch schon wieder gewisse Spielräume offenlässt.
Zugleich machen wir andauernd die Erfahrung von Objektivem, uns Entgegengeworfenem, das unmittelbar da ist und uns seiner Eigengesetzlichkeit unterwirft. Ich kann nicht durch Wände gehen oder übers Wasser laufen, und die Höchstgeschwindigkeit, mit der ich gerade noch heil durch eine Kurve komme, ist durch deren Radius und die Reibung zwischen Reifen und Strassenbelag gegeben. Von den Schwachköpfen, die an eine alternative Physik glauben, lesen wir jeweils am Montag in der Zeitung.
Krankheits- und Todesfälle lassen sich zählen, Temperaturen, Niederschlagsmengen oder Windstärken können wir messen, und zwar objektiv. So braucht es eine gehörige Portion Paranoia, um anzunehmen, dass uns die zuständigen Behörden diesbezüglich bewusst täuschen. Jeden Tag sind wir mit Faktischem konfrontiert, das sich unserem Willen widersetzt und unsere Bedürfnisse schnöde ignoriert – mit Kontoständen zum Beispiel und zuweilen auch mit unserer Anfälligkeit für Krankheiten und damit unserer Sterblichkeit.
Die moderne Kritik an der philosophischen Tradition hat unsern Blick dahingehend geöffnet, dass es verschiedene Arten von Wahrheit gibt: Wirklichkeiten von objektiver Form, die wir einfach zu akzeptieren haben, auf der einen, und auf der anderen Seite eben auch die anderen Wirklichkeiten, auf die wir in der einen oder andern Weise Einfluss nehmen und die wir so – bewusst oder unbewusst – in unserem Sinn modellieren.
Wahre Lebenskunst im Zeichen der Moderne besteht nicht zuletzt darin, die einen Wirklichkeiten von den anderen zu unterscheiden.