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Humanität von der Inhumanität her denken

Von Monstern und Menschen

20. April 2025
Eduard Kaeser
Monster und Menschen
Francisco Goya: Disasters of War, 29, «He deserved it»

Brenton Tarrant, der Massenmörder von Christchurch, bezeichnete sich selbst als «Monster der Willenskraft». Nach dem 7. Oktober 2023 war von Yahia Sinwar, dem inzwischen getöteten Chef der Hamas, als vom «Monster von Gaza» die Rede. Solche Dämonisierung ist gang und gäbe.

Ein Buch über den Massenmörder Anders Breivik trägt den Titel «The Utoya Monster», ein Film über den Inzesttäter Josef Fritzl «Geschichte eines Monsters». Den Begriff «Monster» reservieren wir für Menschen, mit denen man nicht über die gewohnten Kanäle kommunizieren kann. Ihr Handeln, ihre Beweggründe, ihr ganzes psychisches und intellektuelles Universum sind unheimlich, entziehen sich unserem Verständnis. Sie sind Aliens der eigenen Gattung. 

Deshalb ist der Begriff auch eine Warnung. «Monstrare» bedeutet warnen. Wovor eigentlich? Sicher vor physischer Bedrohung. Monster wollen Böses, sie wollen uns töten, von uns Besitz ergreifen, uns vergewaltigen, unser Blut saugen. Grund genug, sich vor ihnen zu fürchten. Aber physische Gefahr allein genügt nicht, um sie von anderen Bedrohungen zu unterscheiden. Ein Krokodil kann durchaus eine physische Gefahr darstellen, ist aber kein Monster. Und warum nicht? Weil man es einer eindeutigen Kategorie zuschlagen kann. Das Krokodil ist ein Tier.

Virtualität macht Monster

Zum Monstersein braucht es die Aura einer nichtphysischen Gefahr. Man könnte sie die Gefahr der Uneindeutigkeit nennen. Das Monster passt in kein Kategoriensystem, sei dieses natürlich oder kulturell. Es ist ein Affront gegen die Natur, die Sitte, das Recht. Wir wissen nicht, was wir mit diesem uneindeutigen Ding anfangen sollen. Wenn es keine reelle Gefahr anzeigt, so doch eine virtuelle. Gerade diese Virtualität macht jemanden zum Monster. Als Zwitterkategorie eignet es sich gut zur Dämonisierung des Anderen. Der Andere gehört nicht zu «uns» und gehört doch zu «uns». Die wohl bekannteste Gestalt, die diesen Widerspruch verkörpert, ist der untote Tote: der Vampir. Eine solche widersprüchliche und «gefährliche Nähe» macht ihn unheimlich, weil die binäre Logik ihn nicht fasst. Das erinnert natürlich an den altbekannten psychoanalytischen Topos: die Nähe des Unheimlichen zum Heimischen, des Ungeheuren zum Geheuren. Wohl deshalb auch das verbreitete Unbehagen gegenüber den nichtbinären Menschen. 

Monster als Mischwesen

Michel Foucault, der Theoretiker der «Devianz», weist in seiner Vorlesung über die Anormalität («Die Anormalen», 1975) auf die Zweideutigkeit des Monsters hin: «Das Monster ist vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, (…) im wesentlichen ein Mischwesen (…) zweier Bereiche, des menschlichen und des animalischen: Der Mensch mit dem Stierkopf, der Mensch mit den Vogelfüssen – lauter Monster. Es ist ein Mischgebilde aus zwei Arten, ein Mixtum zweier Arten: das Schwein mit Schafskopf ist ein Monster. (…) Es ist die Mischung aus zwei Geschlechtern: Wer zugleich Mann und Weib ist, ist ein Monster (…) Folglich überschreitet es die natürlichen Grenzen, die Klassifikationen, die Kategorientafeln und das Gesetz als Tafel: Genau darum geht es in der Monstrosität.»

Die «Monsterisierung» des anderen Menschen

Gewöhnlich nehmen wir Mitglieder unserer Spezies automatisch als Mitmenschen wahr. Und trotzdem gibt es historische und aktuelle Zeugnisse für unsere Anfälligkeit, sie nicht als Menschen zu sehen. Weshalb? Weil Ideen, Ideologien, Indoktrinationen unserer Wahrnehmung einen Denkfilter aufmodulieren können, der die «normale» Wahrnehmung pervertiert. Das ist die tief verstörende Logik der Inhumanität: eine Person unmenschlich traktieren, nicht obwohl, sondern weil sie menschlich ist. Dieses seltsame widersprüchliche Denkdispositiv ist in uns allen angelegt. Und es wird zur Monstrosität, wenn es unsere Wahrnehmung derart fixiert, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren, sie allerschlimmstenfalls als Schlachtvieh betrachten. 

Eine Person als unseresgleichen zu erkennen und anzuerkennen verträgt sich durchaus mit Gefühlen wie Agression, Feindschaft, Abscheu, Verachtung. Aber solche Gefühle stützen sich auf die Gewissheit, dass es sich um Menschen handelt. Gerade diese Gewissheit fehlt bei der «Monsterisierung» des Anderen. Hier unterstellt man ihm, «wesensmässig» kein Mensch zu sein, aber auch kein Tier. Denn Tiere behandelt man in der Regel nicht unmenschlich, sondern schlimmstenfalls nicht artgerecht. 

Das monströse Paradox

Es bedarf zu dieser eigentümlichen «normalen» Geistesgestörtheit gar nicht erst der Ideologie. Auch tradierte Vorurteile, Ängste, tiefverwurzelter ethnischer Hass können den Widerspruch am Köcheln halten. 1993 wütete der Mob im rumänischen Dorf Hadareni pogromartig gegen Roma. Zahlreiche Häuser wurden niedergebrannt, drei Roma getötet. Eine Dorfbewohnerin äusserte sich dazu wie folgt: «Wir sind stolz auf unsere Taten. Eigentlich wäre es sogar besser gewesen, wenn wir mehr Leute verbrannt hätten und nicht nur deren Häuser. Wir verübten keinen Mord – wie kann man das Töten von Zigeunern Mord nennen? Zigeuner sind nicht wirkliche Menschen, weisst du. Sie töten einander. Sie sind Kriminelle, untermenschlich, Ungeziefer.» 

Das Vokabular des letzten Satzes enthüllt den ganzen monströsen Widerspruch: Roma sind Kriminelle, also Menschen, und gleichzeitig Ungeziefer, also nicht Menschen – eigentlich sind sie weder noch, nämlich untermenschlich. Die Frau lebt mit diesem Widerspruch in Seelenruhe. Sie demonstriert die Spur einer «einleuchtenden» Logik der Unmenschlichkeit, die wir vom Dorfpogrom in Rumänien bis zum Genozid in Ruanda verfolgen können. Der Sadismus, andere Menschen als Ungeziefer zu behandeln, liegt exakt darin, dass sie kein Ungeziefer sind. Was für einen Sinn hätte es, einen Tutsi als «Kakerlaken» zu bezeichnen, wenn er wirklich ein Kakerlake und kein Mensch wäre?

Die Spaltung des menschlichen Blicks

Wie stark und nachhaltig diese toxische Indoktrination wirken mag, sie verdrängt den mitmenschlichen Urblick nie völlig. Oder eher, sie spaltet ihn auf in zwei Teilblicke, die sich unter Umständen nicht mehr vertragen. Diese seltsame «gespaltene» Denkart ist in uns allen angelegt. Und sie wird in dem Moment zur Monstrosität, in dem die Ideologie unsere Wahrnehmung derart in Beschlag nimmt, dass wir andere Menschen gegen die Evidenz unserer Sinne und gegen die innere Stimme unserer Empathie nicht mehr als «unseresgleichen» qualifizieren. Dann geschieht etwas, das man im Tierreich kaum kennt: die Gewalthemmung gegenüber Angehörigen der eigenen Spezies verschwindet nahezu total. 

Der andere Pol der Humanität

Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Die Frage von Büchners Danton ist aktueller denn je. Entmenschlichung beginnt im Kopf. Im Denken und Reden über andere, nicht im Behandeln anderer, obwohl beides untrennbar zusammenhängt. Es gibt zahlreiche soziale Praktiken, die vom «gespaltenen» entmenschlichenden Geisteszustand gestützt werden. Einige, wie das Lynchen in der «Jim Crow»-Ära der USA, gründen in alten Traditionen, andere, wie die industrielle Vernichtung «unwerten» Lebens in Nazi-Deutschland, sind «fortgeschrittenere» Formen der Entmenschlichung. 

So oder so, der Hang zur Unmenschlichkeit ist menschlich. Wir sollten also Humanität auch von ihrem entgegengesetzten Pol – der Monstrosität – her denken. Adorno nannte diesen Pol «Auschwitz» und schrieb: «Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.» Aber zu dieser Erziehung gehört notwendig das Memento, dass Ansätze zu Auschwitz immer möglich sind. Indem wir das Monster in den Horizont des Menschenmöglichen einbeziehen, können wir ihm ins Auge sehen – in uns selbst. 

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