Mit dem sechsten Rang wollen sie sich nicht zufrieden geben. Kaum hatten die Brasilianer Ende 2011 erfahren, dass ihr Land Grossbritannien auf den siebten Platz der grössten Volkswirtschaften verdrängte, nahm Finanzminister Guido Mantega bereits Frankreich und Deutschland ins Visier. Brasiliens Wirtschaft wachse doppelt so schnell wie in den europäischen Ländern, sagte er. "Deshalb ist es unaufhaltsam, dass wir Frankreich in Zukunft überholen, und, wer weiss, vielleicht auch Deutschland."
Am Anfang stand der „Plano Real“
Das brasilianische Bruttoinlandsprodukt (BIP) hat in den vergangenen Jahren tatsächlich kräftig zugelegt. Machten dem Land im ersten Jahrzehnt nach der Militärdiktatur (1964-1985) noch eine instabile Währung und hohe Inflation arg zu schaffen, brachten ihm umfassende Strukturreformen unter der Präsidentschaft des gemässigten Sozialdemokraten Henrique Cardoso (1995-2002) wirtschaftliche und politische Stabilität. Mit dem sogenannten "Plano Real", der die zuvor überbordende Inflation wirksam bekämpfte, war ein solides Fundament für einen konstanten Aufschwung gelegt.
Der Ex-Gewerkschafter und ehemalige Bürgerschreck Luiz Inácio Lula da Silva hielt während seiner zwei Amtszeiten 2002-2010 klugerweise an der Wirtschaftspolitik seines Vorgängers fest und baute darüber hinaus dessen Sozialprogramme aus. Und auch seine politische Ziehtochter Dilma Rousseff, die seit 2011 als erste Frau die Geschicke des Landes lenkt, setzt auf Kontinuität - und Wachstum um jeden Preis.
Mit einer Rekordsteigerung von 7,5 Prozent wie im Boomjahr 2010 wird sie freilich nicht so schnell wieder rechnen können. 2011 stieg das BIP um 2,7 Prozent, und für das laufende Jahr sind gut 3 Prozent prognostiziert. In den kommenden Jahren dürften die Wachstumsraten zwischen 4 und 5 Prozent liegen. Der latent überhitzten Wirtschaft kann diese etwas verlangsamte Dynamik nur gut tun.
Weniger Armut – mehr Konsum
Haupt-Konjunkturmotor ist der mit etwa 195 Millionen Einwohnern ausgesprochen starke Binnenmarkt. Der private Konsum ist in den letzten Jahren stets überdurchschnittlich gewachsen und erreichte 2011 mit umgerechnet 1250 Milliarden Franken rund 60 Prozent des BIP. Die Regierung hat mit Sozialprojekten wie der Bolsa Família (Familienstipendien) und der Erhöhung des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns um 65 Prozent seit 2002 einen beachtlichen Konsumboom ausgelöst. Während Lulas Amtszeit sind dank Umverteilungsmassnahmen fast 30 Millionen Brasilianer ihrem Leben unter der Armutsgrenze entflohen. Inzwischen soll – statistisch gesehen - bereits die Hälfte der Bevölkerung zur Mittelschicht gehören. Allerdings ordnet die Regierung bereits Familien mit einem Monatseinkommen ab 291 Reais (rund 150 Franken) in diese Kategorie ein, während jene, die mindestens 1019 Reais (510 Franken) monatlich zur Verfügung haben, schon zur unteren Oberklasse zählen. 291 Reais sind jedoch nicht einmal die Hälfte des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns von 622 Reais.
Die stark wachsende neue Mittelschicht kauft nicht mehr bloss Grundnahrungsmittel und andere unentbehrliche Artikel des täglichen Bedarfs. Sie deckt sich auch mit neuen Haushaltgeräten, TV-Apparaten, Handys und Autos ein, fast immer auf Kredit mit unzähligen Raten.
Alle wollen Eisen und Soja
Ein weiterer Schlüssel zu Brasiliens konstantem Wachstum ist sein Ressourcenreichtum. Das Land ist einer der grössten Rohstofflieferanten der Welt und profitiert von der global steigenden Nachfrage nach Eisen, Soja, Fleisch, Zucker und dem aus Zuckerrohr hergestellten Bio-Ethanol. Unternehmen wie der halbstaatliche Energiekonzern Petrobras und die privatisierte Bergbaufirma Vale sind zu Global Playern aufgestiegen. Brasiliens wichtigste Handelspartner sind mittlerweile die Chinesen, noch vor den USA und Argentinien. Unter den Regionen steht Asien an erster Stelle, auf dem zweiten Platz folgt die EU.
Trotz der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise hat der Aussenhandel 2011 gegenüber dem Vorjahr um 27 Prozent zugenommen, mit rund 430 Milliarden Franken machte er etwa 20 Prozent des BIP aus. In den letzten Monaten litt jedoch auch die brasilianische Exportwirtschaft zunehmend unter der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in China und der Rezession in europäischen Ländern sowie unter protektionistischen Massnahmen der argentinischen Regierung. Für das laufende Jahr ist noch mit einem Anstieg der Ausfuhren um etwa 3 Prozent zu rechnen.
Energie-Supermacht der Zukunft?
Einen speziellen Wachstumsschub erwarten die Brasilianer mittelfristig von der Erschliessung der 2008 an der südöstlichen Atlantikküste entdeckten Rohöl- und Erdgasvorkommen; sie könnten das Land bis 2020 zu einem wichtigen Energielieferanten machen und damit seine Rolle als neue Wirtschaftssupermacht weiter stärken. Auch die bevorstehenden sportlichen Grossereignisse, die Fussball-WM 2014 und die Olympischen Spiele 2016, versprechen zusätzliche Wachstumsimpulse. Allein in Rio de Janeiro sind für diese prestigeträchtigen Mammutveranstaltungen bis 2014 öffentliche und private Investitionen von rund 44 Milliarden Franken geplant.
Ungleich verteilte Kuchenstücke
Die Erfolge der letzten Jahre und die günstigen Perspektiven sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land einen grossen Reformbedarf hat, etwa in den Bereichen Bildung und Gesundheit, öffentliche Verwaltung, Steuern, Renten und Arbeitsrecht. Es weist zudem nach wie vor weltweit eine der grössten Disparitäten bei der Einkommens- und Vermögensverteilung auf. 8 Prozent der Bevölkerung lebt nach wie vor in extremer Armut und muss mit knapp weniger als einem Franken pro Tag auskommen. Ein einheimischer Kommentator stellte zu Recht fest, dass ein grosser Kuchen schön und gut sei. „Wichtiger ist aber, dass jeder ein ausreichend grosses Stück abbekommt.“ Wenig erfreulich entwickelte sich in der jüngsten Vergangenheit die brasilianische Industrie. Der hohe Kurs der einheimischen Währung, schlechte Logistik, Bürokratie und hohe Steuern beeinträchtigen die Wettbewerbsfähigkeit vieler Firmen. Heute machen Rohstoffe die Hälfte der Exporte aus und Industriegüter nur noch ein Drittel; vor fünf Jahren war das Verhältnis umgekehrt. Die Regierung hat inzwischen eine Reihe von Ad-hoc-Massnahmen in die Wege geleitet, um diesen Trend umzukehren, an Strukturreformen wagt sie sich jedoch nicht heran.
"Swissness gilt hier noch etwas"
Brasiliens Wirtschaft ist durch eine tiefe Sparquote - weniger als 20 Prozent des BIP - geprägt und braucht deshalb fremdes Kapital, um die nötigen Investitionen zu tätigen. 2011 kletterten die ausländischen Direktinvestitionen auf ein Rekordhoch von 60 Milliarden Franken.
Es bestehen auch für mittelständische Unternehmen in Europa interessante Möglichkeiten, vom konstanten Wachstum in Brasilien zu profitieren, etwa in den Bereichen Verkehr und Infrastruktur, Umwelt, Energie, Landwirtschaft oder Gesundheit. "Die Chancen sind gut", bestätigt Ernesto Moeri, Präsident der in der Wirtschaftsmetropole São Paulo domizilierten Gruppe Ecogeo, "die Brasilianer bringen den Europäern weiterhin einen Vertrauensvorschuss entgegen, und Swissness gilt hier noch etwas." Der schweizerisch-brasilianische Geschäftsmann ist seit 30 Jahren fern der alten Heimat tätig und hat nach und nach ein Firmenkonglomerat aufgebaut, das sechs auf Nachhaltigkeit fokussierte Unternehmen aus dem Umwelt- und Energiesektor vereint und heute 220 Mitarbeiter beschäftigt.
Ausländischen Firmen, die den brasilianischen Markt erschliessen wollen, empfiehlt Moeri, die Aussichten sorgfältig zu analysieren und sich dann in Geduld zu üben. Der in solchen Fällen unvermeidliche Marathon durch die Ämter kostet in der Tat viel Zeit und Nerven. Verfahren, die sich in der Schweiz in zwei bis drei Wochen erledigen lassen, können in Brasilien schnell einmal ein halbes Jahr dauern. "Die überbordende Bürokratie ist eine ständige Herausforderung", sagt Moeri. "Aber wer eine gute Idee hat und gewillt ist, gute Arbeit zu leisten, sollte sich auch durch diese Hürde nicht von seinem Vorhaben abbringen lassen."
Dieser Artikel von Journal21-Redaktor Hans Moser erschien in einer kürzeren Fassung in der Sonderbeilage des Swiss Economic Forums in der NZZ.